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11.10.08 / Das alte Gut / Es mag ähnliche Landschaften geben, aber Ostdeutschland gibt es nur einmal

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 41-08 vom 11. Oktober 2008

Das alte Gut
Es mag ähnliche Landschaften geben, aber Ostdeutschland gibt es nur einmal

Es liegt tief im Land abseits von dem Bimmelbähnchen, weit fort von der Haltestelle der großen D-Zug-Linie, zu der es hinkeucht. Es liegt hinter den Wäldern, die der Reisende aus dem D-Zug-Fenster erblickt, wenn er aus der zugigen, offenen Halle herausrollt und sich wundert, daß es in dieser Einöde Menschen gibt. Da sein müssen sie, denn er sieht bebaute Felder. Warum soll er seine kostbare Zeit vergeuden, um in eine gottverlassene Gegend zu starren, deren Name „Hinterpommern“ ihm so was sagt wie Sahara und Posemuckel in eins?

Lieber Reisender, es würde dir gar nichts schaden, wenn du hinaussehen würdest. Du würdest nämlich entdecken, daß dieses Land schön ist. Du würdest seine reine, starke Luft atmen, die wie Bergluft weht. Der Zug steigt und steigt, wie im Gebirg. Weit siehst du über riesige Wälder, über langgeschwungene, großlinige Hügelketten, über tief eingeschnittene, breite Täler, aus denen große Seen silbern blinken. Und etwas wie ein Erinnern würde in dir aufwachsen, durch dein übermüdetes Großstadthirn würde es zucken, als hättest du all dieses schon einmal gesehen, als du fröhlich warst und sorglos und jung, ganz jung. –

Tief hinter den riesigen Wäldern liegt das alte Gut. Erst rattert man mit dem Wägelchen ein Endchen gepflasterten Weg, dann kommt Landweg mit Quitschen und Birken, und dann sieht man über Eichen und Linden das schindelgedeckte Rokokozwiebelchen der kleinen Kirche, der sehr kleinen Kirche, die der Minister des alten Fritz, der einmal dies Gut bekam für treue Dienste, da erbaut hat. Kein Mensch könnte trotz seiner Kleinheit „Kapelle“ zu diesem Gebäude sagen, das außen roter Back­stein und innen bläulichweiß getüncht allsonntäglich die liebende Gemeinde von Gut und Dorf vereint. Wenn Gebäude ein Leitmotiv hätten, hieße es hier: „Aufklärung ist gut, aber Sonntag ist besser.“

Doch ich will nicht von der Kirche erzählen, nicht von dem Gutshof, der so aussieht wie alle Gutshöfe im Osten Deutschlands, nicht von dem Haus. Es könnte auch bei uns stehn mit seinem gemütlichen breiten Dach; aber in Ostpreußen wäre doch der hölzerne Wolm nach der Auffahrt zu größer und behaglicher, und es wäre bestimmt irgendwo die ihm verwandte Veranda angebracht. Diese Überleitungen vom Haus zur freien Natur, die bei uns noch das kleinste Bauernhaus besitzt – als Vorplatz, als Galerie, als laubenartigen Anbau —, die fehlen hier überall. Ställe und Scheunen haben weniger und kleinere Fenster als bei uns, sehen nüchterner und trotziger aus, wenn man auf sie zufährt.

Vor dem Haus stehen zwei große alte Kastanien an der Auffahrt, rund wie Glocken. Woanders wären sie der Stolz des Hofes. Aber hier kommen sie nicht auf; denn an der Gartenseite steht der alte Nußbaum, das „Naturdenkmal“, ehrfurchteinflößend und gewaltig.

Grünliche Dämmerung füllt die großen Zimmer des Hauses. Ein namenloser Baumeister, gewiß ein Maurermeister aus dem winzigen Landstädtchen, hat es mal gebaut. Aber wie schön sind die Maße der Zimmer, wie festlich ist der „Saal“ mit den hohen Türen und den fünf schmalen Fenstern, durch deren leise spiegelnde Rauten, vor denen die Weinranken wehen, man nach dem Blumengarten sieht. Eine verschorene Lindenhecke trennt ihn von dem andern Garten. In Ostpreußen würde man Park sagen, wie zu all den Gärten im englischen Geschmack. Hinter der Hecke, von Buchsstreifen eingefaßt, selbst so festlich und gemütlich wie ein Saal, ist das Sommerreich der Obstbäume, der Beerensträucher, der Stauden und Sommerblumen. Nirgends gibt es solchen wasserblauen Rittersporn wie hier. Nirgends solch eine bunte Prozession von lachsrotem Phlox und tiefblauem Sturmhut, zwischen dem weiß und sanft die Madonnenlilien stehn. Sommer­astern und Kokardenblumen, Mohn und Levkojen und Studentennelken, Jungfer im Grünen und Schleierkraut feiern mit in diesem Sommerfest. Durch den überreichen Segen an den Johannisbeerbüschen scheint die Sonne wie durch rotes Glas. O Sommerschönheit unserer altmodischen Landgärten – wer hat dich schon besungen? Die schönsten „Parterres“ vor sämtlichen Schlössern Europas und Indiens verbleichen vor deiner bunten Glut, werden zu mathematischen Schemen vor deiner Wortgefügtheit, in die sich der Rotkohl und der Kohlrabi genauso organisch einfügen wie Rose und Dahlie.

Aber Gärten gibt es sonst noch, es gibt sogar solche mit einer weißen Frau, wie diesen hier, wo sie zwischen Himbeeren und Brennender Liebe im Mondschein wandelt und die Hände ringt, „wenn einer aus dem Haus“ sterben wird. Es ist erhebend für einen ganzen Hof, im Besitz eines richtigen Gespenstes zu sein. Aber es ist weniger erhebend, ihm zu begegnen. Weshalb dieser Teil des Gartens denn auch am Abend von Mensch und Tier gemieden wird. Denn es ist eine Sage, von Stadtleuten aufgebracht, daß nur der Mensch, von törichten Kinderfrauen eingegrault, sich gruselt.

Das Gebiet der wankenden Seele grenzt der Brennereigraben ab; er riecht nicht nach Rosen, aber die Enten, diese Ferkel unter dem Geflügel, lieben ihn. Er rauscht hinter der Straße bergab wie ein Bach, er beeilt sich, durch den „Grund“ zu kommen, und dann öffnet sich die kleine Schlucht und unten breit und lichtgrün liegt die Seewiese und dahinter, silbern, fast kreisrund liegt er – der See. Die Stubben der Erlen, braungelb wie Reizker, stehen am Ufer, Weiden hängen über das tintenschwarze Wasser. An dem steilen Hang rauschen Eichen und Schwarzellern über der jungen Tannenschonung, in der der Stolze Heinrich blüht. Von drüben an der Lichtung, wo das Haus des Jägers hinter der großen Pappel steht, kommt sein Boot mit der breiten, silbernen, gegabelten Spur. Ein Taucherpärchen duckt. Helle Ringe ziehen über das dunkelglänzende Rund des Sees.

Unergründlich tief ist er, dieser See. So tief wie unser höchster Kirchturm hoch ist. Sehr groß ist er, die gleichmäßig eirunde Form, die Belaubung der steilen Wände läßt ihn kleiner erscheinen als er ist, der Uralte, der hier zwischen vereisten Felswänden, zwischen Moränenschollen schlief, als Schnee und Eis dieses Land bedeckten. Damals war er grün wie ein Chrysopras, grün wie es heut die kleinen, runden Alpseen im Engadin sind.

Wenn man den steilen Hang zwischen Tannen und Disteln emporklettert, sieht man ihn wieder rund und silbern unten liegen, glänzend wie den „Spiegel der Diana“, den Nemisee. Dessen Geschichte kennt man. Die Geschichte dieses Sees ist verschollen, wir können nur wie Kinder nachstammeln, was er selbst in seiner Sprache, die nicht Menschensprache ist, uns vorsagt. AM


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