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11.10.08 / Einen Abend lang ewiggestrig sein / In Berlin feiert die »Bohème sauvage« im Stil der Zwanziger Jahre – Mehr als nur verkleiden

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 41-08 vom 11. Oktober 2008

Einen Abend lang ewiggestrig sein
In Berlin feiert die »Bohème sauvage« im Stil der Zwanziger Jahre – Mehr als nur verkleiden

Sie schwärmen vom Mythos der Zwanziger Jahre und pflegen in ihrer Freizeit den Stil der mondänen Unterhaltung. Die Idee der „Bohème sauvage“ hat mittlerweile viele Anhänger gefunden.

Im „Grünen Salon“ der Berliner „Volksbühne“ schreibt man das Jahr 1928. So verkündet es jedenfalls eine Ausgabe des „Berliner Tageblatts“, die überall in den Räumen ausliegt, und so empfinden es auch die rund 450 Gäste, die an diesem Abend dort zusammenkommen sind. Gekleidet sind sie mit Cut und Zylinder, mit Charlestonkleid und Federboa – mit all dem, was Kostümverleih oder Omas Kleiderschrank hergibt.

Die „Bohème Sauvage“, Berlins derzeit wohl interessantestes Trendunternehmen, hat zu „mondäner Unterhaltung“ eingeladen. Aus Lautsprechern tönt unaufdringlich „Just a Gigolo“, auf der Tanzfläche drehen im Halbdunkel einige Paare ihre Runden nach der Musik, und an der Bar reichen aufmerksame Kellner Absinth – das einstige Lieblingsgetränk der Künstler und Literaten. Zumeist aber steht man „kultiviert“ herum, plaudert, trinkt und macht geistreiche Witze, mal ist ein näselndes „Oh la, la“ zu hören, mal ein distinguiertes Lachen. Bei der „Bohème Sauvage“ setzt man auf „Contenance“.

„Eigentlich ist alles aus meinen Privatpartys entstanden“, sagt „Fräulein Else“, alias Inge Jacob, die Gründerin der „Bohème Sauvage“. Mit ihren blonden Haaren unter der Haube, mit der Burlington-Weste und den Knickerbockerhosen erscheint sie fast wie eine Wiedergängerin der Marlene Dietrich. Schon immer an Geschichte interessiert und mit einem besonderen Faible für die „Wilden Zwanziger“ ausgestattet, hat die heute 27jährige in ihrer Wohnung einen „Salon“ gegeben, in dem Freunde Vorträge über die Zwanziger Jahre hielten – natürlich kostümiert. Vor zwei Jahren sei ihr das alles über den Kopf gewachsen. Kurz darauf sei das Angebot gekommen, aus dem privaten Salon eine öffentliche Veranstaltung zu machen. Seitdem trifft sich die „Gesellschaft für mondäne Unterhaltung“ einmal monatlich in Berliner Lokalen wie „Klärchens Ballhaus“ oder dem „Oxymeron“.

„Wir wollen den Leuten den Mythos der Zwanziger Jahre nahebringen, in Berlin trifft man ja auf ihn an jeder Stelle“, erklärt sie. „Aber“, so beeilt sie sich hinzuzufügen, „es geht nicht nur um Tanz, Musik und die Kostüme, sondern auch darum, sich in diese Zeit zu begeben.“ Vor allem das wird in Kreisen der „Bohème Sauvage“ sehr ernst genommen, denn wer am einführenden Tanzkurs teilnimmt oder zu später Stunde mit „Reichsmark“ um Absinthrunden spielt, hat auch Gelegenheit, auf verschiedene selbstgewählte Identitäten zu treffen: etwa auf die der Anna von Oelsen, einer verarmten Baronesse aus schlesischem Adel, die schnell geheiratet werden will – im bürgerlichen Leben studiert die 26jährige an einer Berliner Universität. „Mir widerstrebt der heutige Konformistenlook“, sagt sie, die ein schlichtes Abendkleid trägt und eine Perlenkette dekorativ um den Hals geschlungen hat. „Natürlich ziehe auch ich zuweilen Jeans und T-Shirt an, aber die heutige Mode ist meistens häßlich und vulgär – in den Zwanziger Jahren war man da schon einfallsreicher.“ Ob ihr Leben denn so langweilig sei, daß sie am Sonnabend gleich zum Mummenschanz gehen müsse? „Oh nein!“ antwortet sie, was ihr bei diesen Veranstaltungen außerdem gefalle, sei die Form, die gewahrt werde, die zelebrierte Höflichkeit früherer Zeiten. Heute fehlten Manieren doch überall. Ein älterer Herr im Smoking mit roter Fliege und Kummerbund kann da nur beipflichten: „Hier beherrscht man die Gesellschaftstänze – und alles, was dazu gehört.“ Stil, Form, Manieren gepaart mit Amusement – all das sind wiederkehrende Antworten auf die Frage, was man bei der „Bohème Sauvage“ zu finden gedenkt, trotz manch verklärten Blicks auf eine weit zurückliegende Zeit und trotz manch inszenierter Pose. Angesichts des erstaunlichen Zulaufs scheint es, daß das Gestrige ewig ist und eine Geschäftsidee zum Trend werden kann – nicht nur in Berlin. Vor kurzem hat die „Bohème Sauvage“ erfolgreich in Griechenland gefeiert, demnächst will sie auch in Paris und Chicago die „gute alte Zeit“ wieder aufleben lassen. Michael Böhm

Foto: Ein Faible für die wilden Zwanziger Jahre: Berliner von heute feiern wie die Urgroßeltern und lassen die Vergangenheit nicht nur am Spieltisch wieder aufleben.


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