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25.10.08 / Wer ist eigentlich Reich-Ranicki?

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 43-08 vom 25. Oktober 2008

»Moment mal!«
Wer ist eigentlich Reich-Ranicki?
von Klaus Rainer Röhl

Wer ist eigentlich Marcel Reich-Ranicki? Das fragten sich wohl die meisten der rund elf Millionen Zuschauer in der von Thomas Gottschalk moderierten Fernseh-Gala „Der deutsche Fernsehpreis“. So gut wie niemand von den regelmäßigen Zuschauern von Gottschalks Blödelsendung „Wetten, daß …?“ kannte den prominenten Literarturkritiker, den die Natur mit einer eigenartig meckernden, in der Erregung ins Falsett übergehenden Stimme ausgestattet hat, die er, zusammen mit einem leicht nachzuahmenden scharfen Lispel-S und einem endlos rollenden R zu seinem Markenzeichen ausgebaut hat. Wenn Ranicki in seiner bei Dritten-Programm-Sehern beliebten Büchersendung, dem „Literarischen Quartett“, Roman-Autoren schonungslos verriß und andere – oft ebenso irrational – in den Himmel lobte, zappten die Normalbürger schnell weg. Reden über Bücher mögen sie ohnehin nicht besonders – schon gar nicht so. Gummibärchen-Thomas dagegen mit den echt ondulierten, echt blonden Locken mögen die Leute bei „Wetten, daß …?“, und wenn er ihnen in einer Gala bei der Verleihung des „Deutschen Fernseh-Preises“ einen komischen Mann vorführt, sind sie auf alles gefaßt. Was gab es nicht alles schon bei Thomas Gottschalk! Da gab es einen, der mit dem Mund 20 Biergläser zerbeißen kann, und einen anderen, der eine Pyramide aus Klosettpapierrollen in einer Minute aufbauen und einen, der mit verbundenen Augen Farben riechen kann und einen, der einen Sechs-Tonner-Lkw fünf Meter weit schieben kann. Und ob die Kandidaten das in der Sendung auch schaffen, darauf können die eingeladenen Prominenten wetten, darunter superteure Hollywood-Stars, Sängerinnen oder singende Politiker-Frauen wie Frankreichs Präsidenten-Gattin Carla Bruni oder der langsam schon mittleiderregende Modeschöpfer Karl Lagerfeld. Und so nahm man ohne Vorurteile auch den munter wirkenden alten Herrn wahr, von dem Gottschalk verkündete, daß er der 88jährige Literaturkritiker sei, der nun mit dem Ehrenpreis des Deutschen Fernsehens ausgezeichnet werden sollte. Doch dann lehnte der alte Mann über die miserable Qualität des Fernsehprogramm schimpfend den Preis ab. Der Skandal war perfekt.

Doch es gibt Zweifel an der „Spontanität“ des Skandals. Dazu sah Gottschalks Überraschung zu gespielt aus, so gespielt, wie wenn er eine Wette verloren hat. Alles Dreck, wetterte der alte Herr?

Wie war es nun wirklich? Ranicki dazu später wörtlich: „Es wurden bei der Verleihung Ausschnitte geboten mit irgendwelchen Clowns, irgendwelchem Unsinn, Blödsinn, Dreck, kompletter Dreck. So was wird gesendet jeden Tag. Ich dachte mir, was mach ich hier. Schließlich kam ich dran, weil ich gesagt hatte, ich geh jetzt weg. Nein, nein, sagte der Intendant, um Himmels willen, machen Sie uns keinen Skandal.“ Diese Äußerung Ranickis erlaubt einige Rück-schlüsse darauf, wie der „Skandal“ in Wirklichkeit inszeniert worden sein könnte. Der vorgesehene Preisträger lehnt den Deutschen Fernseh-Preis ab, läßt seine ganze Schimpfkanonade auf das Fernsehen los, Gummibärchen-Thomas senkt seine Mähne bekümmert und macht schließlich dem noch eine Stunde ruhig sitzen bleibenden Breitmaul den Vorschlag, in der „nächsten Woche mit ihm öffentlich über die Qualität des deutschen Fernsehens zu diskutieren“ und hat auch gleich einen Sendetermin bei der Hand. Und am Ende der Sendung nennt der Großkritiker Gottschalk, den Mitverursacher all des Unsinns, den er am deutschen Fernsehen – mit Recht! – kritisiert hat, seinen „Freund“, erlaubt ihm, ihn zu duzen und geht mit ihm essen, Schnitzel mit Bratkartoffeln. Am Mittwoch darauf machen sie eine Diskussion, wo nun beide endgültig Blech reden und das Publikum endgültig sauer wird. Alles Mist, oder was? Ergebnis: Eine großartige Werbung für den 88jährigen, der in diesem Jahr allerdings einmal kein Buch auf der Buchmesse hat.

Wer ist Reich-Ranicki? Ich kenne ihn seit 1964. Von der Tagung der Gruppe 47 in Sigtuna/Schweden. Seine Stimme war auch schon leicht zu imitieren und wurde schon damals von ihm als Markenzeichen stilisiert. Auch der erbarmungslose Zorn auf das, was er für schlecht geschrieben hielt, und die fast zärtliche Bewunderung für nach seiner Ansicht gut geschriebene Verse und Prosa. Wie später die Lyrik von Ulla Hahn oder Sarah Kirsch, die er maßlos überschätzte.

Wie ging es 1966/67 weiter? Da waren wir Hamburger im Sommer alle auf der Insel Sylt. Er, nicht ich, hat sich gerühmt, mit Ulrike Meinhof in der Strandburg in Kampen auf Sylt gesessen und später in Hamburg mit uns über Politik diskutiert zu haben. Großzügig hat er mir (auch in einem Interview) verziehen, daß ich als 15jähriger in der Hitlerjugend war, während er im Ghetto von Warschau als Dolmetscher beim von den Nazis organisierten sogenannten Judenrat tätig war, eine Überlebenshilfe, die ihm dennoch später einmal vorgehalten wurde. Ebenso wie die Tatsache, daß er als polnischer Emigrant in London Kollegen für die polnische Stasi bespitzelt haben soll, bevor er, in Deutschland aufgewachsen und dort am Gymnasium ausgebildet, wieder nach Deutschland zurückkehrte und dort zu einem angesehenen Kritiker der „Zeit“ in Hamburg und so zu unserem Partybekannten wurde. Später machte er bei der „FAZ“ in Frankfurt endgültig Karriere als Großinquisitor der deutschen Sprache.

Er hat die deutsche Literaturszene nachhaltig beeinflußt, obwohl er Wert darauf legt, kein Deutscher zu sein. Ich zitiere aus einem 2004 erschienenen Interview aus der „net-Zeitung“: Dort sagt er über den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Deutschland Ignatz Bubis: „Es gibt einen Unterschied zwischen Bubis und mir. Einen ganz gewaltigen, von anderen abgesehen. Bubis hielt sich viele Jahre für einen Deutschen und ich nie. Ich war kein Deutscher und ich bin kein Deutscher. Deswegen sind mir viele Enttäuschungen erspart geblieben, die Bubis und seine Frau erlebten. Bubis war schon entsetzt, als ihn die arme Petra Roth [Oberbürgermeisterin von Frankfurt] gefragt hat: ‚Sehen wir uns nächste Woche bei ihrem Botschafter?‘, das hieß, dem Botschafter Israels in Bad Godesberg. Verstehen Sie? Mir werden solche Fragen nie gestellt. Aber ich habe mich nie als Deutscher gefühlt, und niemand kann mir mein Deutschtum bestreiten. Das gibt’s nicht. Ich benutze das Wort deutsch für meine Person als Adjektiv. Ich bin ein deutscher Literaturkritiker, wenn Sie so wollen.“

Deutscher oder nicht, aber, wo er recht hat er recht. Das deutsche Fernsehen ist schlecht, grottenschlecht. So schlecht, daß es auch noch die berechtigte Kritik des schimpfenden Großkritikers als Teil der Schau vermarktet. Die Diskussion zwischen Reich-Ranicki und Gottschalk wurde am vergangenen Freitag im ZDF gezeigt. 3,51 Millionen Zuschauer hatten eingeschaltet, der Marktanteil betrug 14,4 Prozent.

Und der ARD-Vorsitzende Fritz Raff wundert sich in der „Wirtschaftswoche“, er habe einfach nicht verstanden, daß die vom Literaturkritiker angestoßene Debatte in der Lage war, die internationale Finanzkrise aus den Schlagzeilen zu verdrängen.


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