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01.11.08 / Schiedsspruch mit Billigung Londons / Im Herbst 1938 versuchten Deutschland und Italien, den slowakisch-ungarischen Grenz- und Minderheitenstreit zu beenden

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 44-08 vom 01. November 2008

Schiedsspruch mit Billigung Londons
Im Herbst 1938 versuchten Deutschland und Italien, den slowakisch-ungarischen Grenz- und Minderheitenstreit zu beenden

Bis heute belasten Minderheitenprobleme das Verhältnis zwischen der Slowakei und Ungarn. Die Wurzeln dieser Streitigkeiten lassen sich bis in die Zeit der Habsburger zurückverfolgen. Vor 70 Jahren sollte der Erste Wiener Schiedsspruch das Problem mit einer Korrektur der 1919 gezogenen Grenze lösen.

Gemäß einer Volkszählung, die  Kaiser Joseph II. 1785 durchführen ließ, waren nur rund vier von fünf Bewohnern des Gebietes der heutigen Slowakei Slowaken. Mitte des 19. Jahrhunderts lebten auf den zehn Komitaten, deren Gebiet heute vollständig zur Slowakei gehört, nur 71 Prozent Slowaken. Die ethnischen Ungarn (Magyaren) machten 11,7 Prozent aus. Der deutsche Anteil betrug 8,4 Prozent, jener der Ruthenen 5,2 Prozent und der der extra gezählten Juden 3,7 Prozent.

Die komplizierte Gemen­ge­lage in diesem Raum warf solange kaum Probleme auf, wie der Nationalismus und das Streben nach Nationalstaaten noch keine Rolle spielten und alles zum österreichischen Vielvölkerstaat gehörte. Der von ungarischen Nationalisten durchgesetzte österreichisch-ungarische Ausgleich von 1867 ist deshalb durchaus ambivalent zu beurteilen. Auf der einen Seite brachte er den Ungarn mehr Selbstbestimmungsrechte, andererseits gehörte die heutige Slowakei nun zu einem Königreich Ungarn, das sich in hohem Maße als Nationalstaat verstand und nun ebenso wie seine deutschen auch seine slowakischen und beispielsweise rumänischen Bevölkerungsteile zu magyarisieren versuchte. Die Bestrebungen blieben nicht ohne Folgen. Bereits 13 Jahre nach dem Ausgleich, im Jahre 1880, lebten auf dem Gebiete der heutigen Slowakei nur noch 61 Prozent slowakische Muttersprachler, hingegen mittlerweile über 22 Prozent ungarische. Eine weitere Folge der Magyarisierungspolitik war eine Belastung der slowakisch-ungarischen Beziehungen, die bis zum heutigen Tage nicht frei von Spannungen sind.

Obwohl es in Ungarn gegen Ende des Ersten Weltkrieges Bestrebungen gab, sich vom besiegten Österreich-Ungarn zu distanzieren, wurde Ungarn doch von den siegreichen Ententestaaten als Kriegsverlierer behandelt. Im Friedensvertrag von Trianon verlor das Königreich zwei Drittel seines vormaligen Territoriums mit etwa 3,2 Millionen ethnischen Ungarn – nicht zuletzt an die neugegründete Tschechoslowakei. Als Folge bemühte sich Ungarn um eine Revision der Ordnung Europas durch die Pariser Vorortverträge.

Eine Bresche schlug hier das Deutsche Reich, das mit dem Anschluß Österreichs und des Su­de­tenlandes das Selbstbestimmungsrecht der Völker für einen Teil der Verlierer des Ersten Weltkrieges durchsetzte. Gerne hätten es die Ungarn gesehen, wenn auf der Münchner Konferenz vom 29. September 1938 auch über ihre Gebietsansprüche gegen die Tschechoslowakei verhandelt worden wäre, aber dem war nicht so. Allerdings erklärten die Regierungschefs der vier Konferenzmächte Deutschland, Italien, Großbritannien und Frankreich, „daß das Problem der polnischen und ungarischen Minderheiten in der Tschechoslowakei, sofern es nicht innerhalb von drei Monaten durch eine Vereinbarung unter den betreffenden Regierungen geregelt wird, den Gegenstand einer weiteren Zusammenkunft der hier anwesenden Regierungschefs der vier Mächte bilden wird“.

Der Wille der vier Großmächte zu einer Lösung schien eindeutig, und so begannen am 9. Oktober 1938 bilaterale Verhandlungen zwischen der Tschechoslowakei und Ungarn. Die Positionen zwischen den beiden Parteien waren jedoch zu weit auseinander, als daß es zu einer Lösung gekommen wäre.

Konsequent wäre nun eine erneute Zusammenkunft der vier Großmächte gewesen, aber am 28. Oktober 1938 unterrichtete der britische Botschafter in Rom die italienische Regierung, daß seine Regierung eine Intervention der beiden Achsenmächte als Schiedsrichter nicht nur ohne jedes Vorurteil, sondern sogar mit Genugtuung betrachten werde. Diese britische Haltung ist ein interessanter Beleg dafür, wie positiv London das Münchner Abkommen damals noch bewertete, was in der heutigen Geschichtsschreibung aber regelmäßig unterschlagen wird. Seitens der beiden Kontrahenten, um deren gemeinsame Grenze es ging, gab es keine Einwände. Sie sagten zu, einen Schiedsspruch der beiden Achsenmächte anzuerkennen. Die Slowaken hofften als Gegenspieler der Tschechen in der Tschechoslowakei auf deutsche Sympathie, und die Ungarn unterhielten traditionell ebenfalls gute Beziehungen zum Deutschen Reich, mit dem sie den Ersten Weltkrieg verloren hatten.

Entscheidende Bedeutung kam in dieser Situation Italien zu, das ebenso wie Polen mehr den Ungarn zuneigte. So wurde die Volkstumsgrenze, an der sich gemäß dem Selbstbestimmungsrecht der Völker die neue slowakisch-ungarische Grenze orientieren sollte, auf der Basis einer Volkszählung ermittelt, die 1910 unter ungarischer Herrschaft durchgeführt worden war.

Am 2. November 1938 begannen im Wiener Schloß Belvedere um 12 Uhr die Verhandlungen, an denen jeweils die Außenminister der beteiligten Mächte Deutschland, Italien, Ungarn und der Tschechoslowakei, also Joachim von Ribbentrop, Galeazzo Ciano, Kálmán Kánya und František Chvalkovský, teilnahmen. Darüber, wie es nach den Plädoyers der beiden Streitparteien und einem kleinen Mittagsmahl weiterging, liegt eine Beschreibung Cianos vor: „Dann begaben Ribbentrop und ich uns mit wenigen Mitarbeitern ins Goldene Kabinett. Ich übernahm die Leitung der Diskussion und zog mit einem roten Bleistift die neue Grenzlinie, wobei nur geringe Meinungsunterschiede entstanden. Die mangelhaften Kenntnisse Ribbentrops erlaubten mir, gewisse Gebietsteile für Ungarn abzuschneiden, die in Wirklichkeit Gegenstand einer ausführlichen und umstrittenen Diskussion hätten sein können … Dann traten die Delegierten ein. Als Chvalkovský die Karte sah, erbleichte er und sagte leise zu mir: ,Morgen muß ich demissionieren. Keine Regierung könnte einen derartigen Schlag verkraften.‘ Kánya blieb ungerührt, zeigte aber, daß er zufrieden war.“

Um 19 Uhr eröffnete Ribbentrop die Sitzung. Der italienisch-deutsche Schiedsspruch wurde verlesen und unterzeichnet. Dann schloß der Gastgeber und Vorsitzende die Sitzung. Gemäß dem Schiedsspruch überließen die Tschechoslowaken den Ungarn im Zeitraum vom 5. bis 10. November ein Grenzgebiet im Umfange von rund 11927 Quadratkilometern mit rund einer Million Einwohnern. Davon lagen 10390 Quadratkilometer auf dem Territorium der heutigen Slowakei, der Rest in der Karpatenukraine. Es lebten dort etwa 720000 Magyaren, aber auch über 120000 Slowaken.

Noch während des im darauffolgenden Jahr beginnenden  Zweiten Weltkrieges wurde der Schiedsspruch von den Alliierten für nichtig erklärt – gegen die britische Erklärung vom 28. Oktober 1938. Nach dem Krieg wurde diese Ungültigkeitserklärung auf der Pariser Friedenskonferenz vom 29. Juli bis 15. Oktober 1946 noch einmal explizit bestätigt.    

Manuel Ruoff

Foto: Die Außenminister der Achsenmächte unterzeichnen ihren Schiedsspruch: Der Italiener Galeazzo Ciano (links) und der Deutsche Joachim von Ribbentrop (rechts)


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