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08.11.08 / Ursachen der Bruchlandung / Nicht die vier »Abtrünnigen« haben ein Glaubwürdigkeitsproblem, sondern die SPD – Genug Warnungen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-08 vom 08. November 2008

Ursachen der Bruchlandung
Nicht die vier »Abtrünnigen« haben ein Glaubwürdigkeitsproblem, sondern die SPD – Genug Warnungen

Die SPD droht am Wortbruch Andrea Ypsilantis zu zerbrechen. Ob die Führungskraft des Vorsitzende Franz Müntefering reicht, die vom hessischen Debakel schwer getroffene und gegenüber der Linken orientierungslose Partei wieder aufzurichten, erscheint zweifelhaft.

Vorwärts, Genossen, wir rudern zurück – gemäß diesem Motto bemühte sich Parteichef Franz Müntefering, den leckgeschlagenen alten Dampfer namens SPD wieder einigermaßen auf Kurs zu bringen und vor dem Kentern zu bewahren. Als die Nachricht vom endgültigen Scheitern Andrea Ypsilantis in Berlin mitten in eine Sitzung des Parteipräsidiums geplatzt war, verfiel der gerade erst installierte Hoffnungsträger zunächst einmal in tiefe Depression und blanke Wut. Nicht die verhinderte Beinahe-Ministerpräsidentin stellte sich ihm als Verursacherin der schweren Glaubwürdigkeitskrise dar, sondern jene Landtagsabgeordneten, die den Vollzug des bewußt organisierten Wortbruchs im letzten Moment verhindert hatten.

In den ersten Stunden nach dem Debakel ereiferten sich mit Müntefering zahlreiche Sozialdemokraten über „Charakterlosigkeit“ und „Niedertracht“ der Genossinen Carmen Everts und Silke Tesch sowie des Genossen Jürgen Walter. Lediglich die Vierte im Bunde, Dagmar Metzger, blieb weitgehend verschont; sie hatte ja schon im Frühjahr das öffentlich gemacht, was wütende Parteifreunde nun als „Verrat“ werten.

Daß die meisten Sozialdemokraten, gleich welchem Lager sie sich zuordnen, die Bruchlandung der hessischen Spitzenkandidatin mit all ihren Folgen für die Partei nicht als freudiges Ereignis empfinden, daß manchem aus der ersten Emotion heraus allzu starke Worte herausrutschen – alles verständlich. Da ist es um so wichtiger, schnellstmöglich zu nüchterner Betrachtungsweise zurückzufinden. Genau darum schien Müntefering zumindest bemüht.

Bis in die späten Abendstunden eilte der SPD-Vorsitzende von Interview zu Interview. Dabei fiel auf, wie sich von Stunde zu Stunde sein Ton änderte. Die Zweifel an der Glaubwürdigkeit der drei Abweichler fielen immer schwächer aus, die Kritik an Ypsilanti wurde immer deutlicher.

Ob Müntefering noch (oder schon wieder) genügend Autorität hat, um seine Genossen auf diesem Weg mitzunehmen, bleibt abzuwarten. Sein am Ende dieses dramatischen Tages doch recht deutliches Abraten von disziplinarischen Maßnahmen gegen die „Verräter“ fand jedenfalls zunächst kaum Gehör. Beim Zurück-rudern ließ man den Chef vorsichtshalber erst einmal allein.

Zum Bild einer Partei, in deren Tradition der Begriff „Solidarität“ eine so überragende Rolle spielt, paßt das eigentlich nicht. Und das Gerede von der mangelnden „Glaubwürdigkeit“ dreier der vier Abweichler paßt zum derzeitigen Erscheinungsbild der SPD ähnlich gut wie der Steinewerfer ins sprichwörtliche Glashaus.

Nach Überzeugung der weitaus meisten Beobachter haben nicht etwa Carmen Everts, Silke Tesch und Jürgen Walter ein Glaubwürdigkeitsproblem, sondern die deutsche Sozialdemokratie. Das wäre anders, wenn die Drei sich nicht am Tag vor der geplanten Ministerpräsidentenwahl offenbart hätten. Es wäre für sie doch viel leichter gewesen, den Schutzschild der geheimen Abstimmung zu nutzen und Andrea Ypsilanti das gleiche Schicksal zu bereiten wie Heide Simonis im März 2005 in Kiel. Bei mindestens vier fehlenden Stimmen aus dem rot-rot-grünen Lager – wer weiß, ob wirklich Grüne und Linke geschlossen votiert hätten? – wären sie nicht zu identifizieren gewesen, hätten also nicht ernsthaft mit Konsequenzen für die eigene politische Karriere rechnen müssen. Die Verlockung war groß, gerade nach dem, was Dagmar Metzger in den letzten Monaten an Druck bis hin zu blankem Psycho-Terror aushalten mußte.

Kaum stichhaltig ist auch das Argument, die Kritiker des Ypsilanti-Kurses hätten doch monatelang Gelegenheit gehabt, ihre Bedenken vorzutragen, diese aber nicht genutzt. So hat beispielweise SPD-Landesvize Jürgen Walter parteiintern und auch öffentlich in den letzten Monaten stets seine Abneigung gegen eine Zusammenarbeit mit der Linken artikuliert. Zwei Tage vor dem Eklat hat er auf dem Sonderparteitag in Fulda den Koalitionsvertrag mit den Grünen abgelehnt, auch weil er dadurch Zehntausende von Arbeitsplätzen gefährdet sieht. Carmen Everts und Silke Tesch nehmen ebenfalls für sich in Anspruch, oft genug und deutlich genug auf ihre Nöte und Gewissensbisse hingewiesen zu haben; Andrea Ypsilanti habe das aber gar nicht hören wollen.

Die zentrale Figur des Glaubwürdigkeits-Debakels zeigt bislang keine Spur von Selbstkritik. Das übergeordnete Ziel, das die vereinigten Linken – ob rot, grün oder dunkelrot – zusammenkittet, lautet „Koch muß weg“, und das scheint aus Ypsilantis Sicht nach wie vor fast jedes Mittel zu rechtfertigen. Ausgerechnet sie erklärte nun, sie sei „menschlich tief enttäuscht“.

Hans-Jürgen Mahlitz

Foto: „Charakterlos“: Für viele Sozialdemokraten sind die Ypsilanti-Abweichler hinterhältige Putschisten.


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