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08.11.08 / Die Heimat ist mitgewandert / Preußenschild-Trägerin Ruth Geede erzählt die Anfänge der Landsmannschaft Ostpreußen und des Ostpreußenblattes

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-08 vom 08. November 2008

Die Heimat ist mitgewandert
Preußenschild-Trägerin Ruth Geede erzählt die Anfänge der Landsmannschaft Ostpreußen und des Ostpreußenblattes

Wie war das damals, als unsere Heimat mit und in uns ihren Namen fand: Landsmannschaft Ostpreußen? Vor 60 Jahren, als wir von Haus und Hof Vertriebenen das Netz zu knüpfen begannen, das uns Heimatlose auffangen sollte. Das uns die Möglichkeit gab, uns wieder zusammenzufinden, wohin das Schicksal uns auch verschlagen hatte. Das uns half, den Schmerz um die verlassene Heimat zu ertragen. Uns Wege zu weisen, die begehbar schienen, wenn sie auch nicht heimwärts führten. Nicht mehr in der Realität, aber in der Erinnerung, der keine Grenzbäume gesetzt werden konnten – bis heute.

Nichts ist vergessen. Ich brauche kein Tagebuch aufzuschlagen, keine alten Fotos hervorzuholen, die es doch nicht gibt, denn wer besaß damals schon eine Kamera? Alles ist in der Erinnerung gespeichert und lebendig wie zuvor. Der kleine Ort in der Lüneburger Heide. Die Rote-Kreuz-Stube bei dem alten Landarzt, in dem die gallenkranke Mutter endlich ein Bett fand und der uns nicht als Flüchtlinge, sondern als flüchtige Einquartierung betrachtete und dies auch laut äußerte: „Entweder siegen die Amerikaner, die bringen euch schon nach Hause, oder die Russen, die holen euch sowieso zurück!“ Es blieb nur die stille Hoffnung, einmal in Frieden heimkehren zu können.

Frieden gab es, aber Heimkehr?  Zuerst ging es um das nackte Überleben. Aber dann tauchten vertraute Gesichter auf. Irgendwo auf der Straße, auf den Feldern und Äckern beim Stoppeln, beim Pilzesuchen, Beerensammeln und Bucheckernlesen, und in der Kreisstadt, in die man von irgendeinem Gefährt mitgenommen wurde, es gab ja noch keine öffentlichen Verkehrsmittel in der abgelegenen Ostheide. Da stand man plötzlich einem ehemaligen Nachbarn gegenüber, hörte an der Tauschecke heimatliche Worte, las an einer Zettelwand einen bekannten Namen, vernahm von Menschen, die zum vertrauten Lebenskreis gehört hatten: Die Buschtrommel begann zu tönen. Aus bereits vor der Flucht vereinbarten Treffpunkten meldeten sich Verwandte und Freunde. Und die wußten wiederum von Bekannten und ihrem Verbleib, manchmal ganz in der Nähe. Und mit jedem Wiederfinden, jedem Wiedersehen wuchs das Bewußtsein: Du bist nicht allein. 

Die Heimat war mitgewandert. Man begrüßte sich bewußt in der vertrauten Mundart „Na, ei, wie jeit?“ „Na, jeit so!“ Kochte die heimatlichen Speisen: Sauerampfersupp, Pilzkebartsch, Wruken und Kumst, wenn auch der Speck fehlte.  Wenn dann doch jemand einen Streimel mitbrachte, wurde es ein Festessen. Wer nuscht hatte, gab davon noch was ab. Wie wenn man einen Stein ins Wasser wirft: Die Kreise wurden immer größer. Auch wenn noch keine Organisation dahinter stand, es noch keine Publikationen gab: Die Eigeninitiative machte es möglich, daß sich schon kleine Gruppen im privaten Rahmen zusammenfanden. Vor allem dort, wo viele Landsleute eine vorläufige Bleibe gefunden hatten, wie das in größeren Orten der Fall war, die von Bombenangriffen und Kampfhandlungen weitgehend verschont geblieben waren.

So auch in Lüneburg, der alten Salzstadt, deren mittelalterliches Giebelgesicht zwar noch mehr Falten bekommen hatten, die aber unter ihrem roten Dächermantel eine gewisse Geborgenheit bot. Und mit der einsamen Heidelandschaft und den großen Wäldern gerade den Ost- und Westpreußen die vertraute Weite schenkte. Hier fand sich um den aus altpreußischer Familie stammenden Forstmeister a.D. Hans-Ludwig Loeffke ein erster Kreis zusammen, der sich ganz der Arbeit für die Vertriebenen widmete und half, ihnen den Zusammenhalt zu vermitteln, der ein Überleben fern der Heimat in erträglichen Maße ermöglichte. Immer im Gedenken an die verlassene Heimat und dem Willen, ihre Geschichte zu bewahren und gerettetes Kulturgut zu erhalten. Hans-Ludwig Loeffke sah darin seine Lebensaufgabe, die mit der Gründung des Ostpreußischen Jagdmuseums einen Grundstein für die Aufarbeitung der preußischen Geschichte im Nachkriegsdeutschland legte, auf dem noch heute die Aufgabe und Bedeutung des nunmehrigen Ostpreußischen Landesmuseums ruht. Die zur Zeit dort laufende Ausstellung „Jagd in Ostpreußen“ mit einer sehenswerten Präsentation ostpreußischer Trophäen beweist das gerade auf aktuelle Weise. Hans-Ludwig Loeffke begründete mit sechs weiteren Ostpreußen die Bundeslandsmannschaft Ostpreußen. In Niedersachsen gehörte er zu den Gründern des Bundes der Vertriebenen. Bis zu seinem so frühen Tod im Jahr 1974 leitete er die Lüneburger Vertriebenenverbände.

Hans-Ludwig Loeffke spannte mich schon nach den ersten Begegnungen in diese Arbeit mit ein. Und wenn auch manchmal das Publikum nur aus wenigen Zuhörern bestand: Ich konnte wie früher aus meinen Büchern lesen, von denen ich einige wiederbekommen hatte. Mit mir die Schauspielerin Edith Schroeder, mit der ich schon in Königsberg auf den Brettern der Niederpreußischen Bühne – in meinen eigenen Stücken – gestanden hatte und die damit auch schon vor dem Krieg in Hamburg gastiert hatte. Die „Königsbergerin vom Fischmarkt“, wie sie sich mit Vorliebe bezeichnete, besetzte am Lüneburger Theater das Fach der „Komischen Alten“. Das rege Theaterleben zog viele große Mimen in die Heidestadt wie Hermann Speelmann, mit Paul Schuch stand ebenfalls ein Königsberger auf der Lüneburger Bühne, die einen glänzenden Ruf hatte. Junge Talente nahmen von hier ihren Weg in die große Theater-und Filmlandschaft wie Karlheinz Vosgerau und Dagmar Koller. Vom Reichssender Königsberg fand sich einer der beliebtesten Sprecher, Waldemar Kuckuck, ein, mit dem ich zusammen die ersten „Bunten Abende“ veranstaltete. Auch mit Marion Lindt, die als „Hanne Schneidereit“ in ganz Ostpreußen bekannt war. Trotz  früherer Gegensätzlichkeit der mundartlichen Interpretationen: Jetzt verband uns die Heimat, nur sie zählte. Auf den Gebiet der Bildenden Kunst gab es ein Wiedersehen mit dem Künstler-ehepaar Bernecker. Die Malerin und Graphikerin Gertrud Lerbs-Bernecker, eine der ganz Großen unter den ostpreußischen Künstlerinnen, hatte noch in den letzten Kriegsmonaten eine von mir geschriebene Novelle illustriert, Manuskript und Steinzeichnungen waren leider vernichtet worden und damit verloren. Der viel zu früh Verstorbenen hat ihr Patensohn Peter Drahl mit seiner „Gertrud Lerbs“-Biographie ein Denkmal gesetzt.

Der Kreis von alten und neuen Freunden zog immer größere Ringe, vor allem dann, als sich die Vertriebenenbewegung überregional zu konsolidieren begann. Durch striktes Verbot hatten die Besatzungsmächte bis zum Jahr 1947 jegliche Vereinigung von Deutschen, die im Osten ihre Heimat verloren hatten, unterbunden. Wie in Lüneburg hatten sich überall in den drei Westzonen die Vertriebenen in örtlich begrenzten Gruppen zusammengefunden, die aufgrund ihrer Aktivität zur Bildung größerer Arbeitskreise führten. Im August 1948 hatte sich in Bad Godesberg die „Repräsentation der Ostvertriebenen“ gebildet. Für Ostpreußen war in das Gremium der frühere Landespräsident des Memelgebietes, Dr. Ottomar Schreiber, gewählt worden. Der entscheidende Schritt zu einer Gründung der Landsmannschaft Ostpreußen wurde am 3. Oktober 1948 in Hamburg vollzogen, als von den dort versammelten ostpreußischen Frauen und Männern, die sich um eine Erfassung ihrer Landsleute bemüht hatten, für jeden Heimatkreis ein Vertreter bestimmt wurde. Zum Sprecher wurde nach einer programmatischen Rede Dr. Ottomar Schreiber gewählt.

Jetzt begann das große Zusammenfinden über die engeren Räume hinaus. Ein fast zögerlich wirkender Brückenschlag war schon am 1. Februar 1949 mit der Ausgabe der Zeitschrift „Wir Ostpreußen“ als Mitteilungsblatt der Landsmannschaft Ostpreußen erfolgt. Es war nur ein dünnes Blättchen, das einmal im Monat erschien und vor allem über die Arbeit und die Ziele des Vereins berichtete. Aber es trug auch dazu bei, daß die ersten Großkundgebungen der Vertriebenen mit ihrer hohen Teilnehmerzahl die kühnsten Erwartungen übertrafen, weil sie mit diesem Blatt die Landsleute erreichten, wohin es sie auch verschlagen hatte. In Hamburg fanden sich zu Pfingsten allein 7000 Königsberger zusammen. Die Ostpreußenwoche im Juli in Hannover, die ein volles Acht-Tage-Programm bot, wurde für die Vertriebenen zu einer wahren „Wallfahrt“, wie das Blatt berichtet. Allein bei der Großkundgebung füllten über 5000 Teilnehmer die Niedersachsenhalle bis zum letzten Platz. Es begann das große Suchen, Fragen, Finden. Erinnerung kam auf  an das alte Spiel unserer Kindertage: „Bist du‘s oder bist du‘s nicht?“ Es gab nun eine neue Version unter Erwachsenen. Man entdeckte in dem Menschengewirr plötzlich jemanden, der einem bekannt vorkam: Nachbar, Freund, Kamerad, Kollege? Und wenn der oder die Betreffende sich nach zaghaftem Klopfen auf die Schulter umdrehte, gab es genau wie im Kinderspiel zwei Lösungen: „Ja, ja, du bist es wohl ...“ oder „Nein, nein, du bist es nicht ...“ Aber auch die Enttäuschten konnten getröstet werden. Denn wie sich aus dem anschließenden Plachandern mit dem Angesprochenen ergab, kannte er mit Sicherheit jemanden, der wiederum einen kannte, der wahrscheinlich dem Suchenden bekannt war.

Auch mir boten diese Veranstaltungen die Möglichkeit, auf gemeinsamen Lesungen alte Gefährten der Feder aus unserm Königsberger Schriftstellerkreis wiederzufinden. Es war fast so wie früher, als wir uns einmal im Monat im Blutgericht getroffen hatten. Da waren Ottfried Graf Finckenstein und Gertrud Papendick, Hans-Georg Buchholtz und Fritz Kudnig, Walter von Sanden und Erminia von Olfers-Batocki. Die Dichterin aus Tharau hatte ich schon in ihrem Flüchtlingsdomizil in Bad Harzburg besucht, nachdem mich ihre Tochter Hedwig von Lölhöffel in Hamburg aufgespürt hatte. Unsere Verbindung war besonders eng durch die gemeinsame Liebe zum ostpreußischen Platt.

Und Agnes Miegel? Die Dichterin war in Bad Nenndorf geblieben, hatte am 9. März ihren 70. Geburtstag feiern können. Die Stadt Rinteln richtete ihr eine sehr schöne Feier aus, auf der ich die Festrede halten durfte. 

Eine Begegnung in Hannover ist in der Erinnerung besonders haften geblieben: die mit dem Komponisten Herbert Brust im Wartesaal des Hauptbahnhofs. Er setzte sich an meinen Tisch und zog ein Blatt Papier aus der Tasche. Es war ein Lied – nicht der Schlußchoral seiner schon Anfang der 30er Jahre geschaffenen „Ostpreußenkantate“, der nun zu „unserm Ostpreußenlied“ geworden war: Land der dunklen Wälder ... Es wurde überall gesungen, wo sich Vertriebene trafen. Nein auf dem Notenblatt stand mein Name neben dem seinen.  Herbert Brust hatte mein Haffgedicht „Träge ziehen meine Kähne...“ vertont!

Als „Wir Ostpreußen“ über diese Treffen berichtete, hatte das Blatt schon erheblich an Umfang und Inhalt gewonnen. Trotzdem war ihm kein langes Dasein beschieden. Im März 1950 wurde es von dem zweimal im Monat erscheinenden Organ der Landsmannschaft Das Ostpreußenblatt abgelöst, das bald hohe Auflagen erreichte, weil es die Leser über alles, was die Vertriebenen und ihre Schicksalsfragen betraf, informierte. Es sollte zugleich Organisationshilfe sein wie die Plattform, auf der sich die vertriebenen Ostpreußen finden konnten. Bereits die erste Ausgabe vom 5. April wies 48 Seiten auf, fast neun Seiten enthielten Suchfragen nach Vermißten und Verschollenen.

Und damit kommen wir zur „Baracke“, jenem einfachen Holzbau in der Wallstraße in Hamburg, der zur Urzelle der landsmannschaftlichen Arbeit wurde. Bis dahin hatte als „Geschäftsraum“ die Einzimmerwohnung des Geschäftsführers Werner Guillaume gedient, in deren drangvoller Enge bis zu acht Mitarbeiter tätig waren. Er zog nun in die Baracke ein wie der Vertrieb, der in den Händen von Carl Emil Gutzeit lag. Und auch die Wohnung des ersten Chefredakteurs Martin Kakies erwies sich bald für die Redaktionsarbeit als unhaltbar. So waren Geschäftsführung, Vertrieb und Redaktion unter einem Dach vereint, wenn es auch aus Wellblech war, auf das im Sommer die Sonne erbarmungslos knallte. Im Winter herrschte dagegen bittere Kälte, denn die klapprigen Kanonenöfen wurden mit mitgebrachtem Torf, Holz und Kohlengrus beheizt. Die bullerten zuerst wie verrückt und ließen die engen, niedrigen Räume zur Sauna werden, kühlten aber ebenso schnell wieder ab. An den zu Schreibtischen umfunktionierten alten Küchen- und Gartentischen arbeiteten die Redakteure beim Licht einer einsamen Glühlampe. Trotzdem klapperten die Schreibmaschinen wie verrückt, denn jeder war froh, die Zeitung mit gestalten zu können. Zumal man die Reaktionen der Leserschaft hautnah erlebte, denn wen der Weg nach Hamburg führte, suchte auch die Baracke auf. Manche hatten ein Mitbringsel in der Tasche, zumeist etwas Eßbares, was brüder-schwesterlich geteilt wurde. Hier traf man sich und trug sein Anliegen vor, wollte mitwirken, mitarbeiten.

Die Heimat war fern, aber wir waren uns nah. Ostpreußisches Kulturschaffen nahm Formen an, bis spät in die Nacht wurde vorgetragen und diskutiert, wurden Veranstaltungen konzipiert. Wir finden uns irgendwie, irgendwann hier zusammen: Der Journalist Markus Joachim Tidick, der Dichter Hans-Georg Buchholtz, der zum Vorsitzenden der Ostpreußischen Kulturgemeinschaft gewählt wurde, der Zeichner Hans-Jürgen Press, die Schriftstellerin Gertud Scharfenorth, die Erzählerin Toni Schawaller, der Romanautor Paul Brock, – sie und viele andere trugen mit zur kulturellen Gestaltung des jungen Ostpreußenblattes bei. Und wenn ein Besucher keine nächtliche Bleibe hatte, übernachtete er eben in der Baracke auf einem provisorischen Lager. Das erwies sich allerdings als schwierig, als im Mai 1950 die Ostdeutsche Heimatwoche in Hamburg stattfand. 80000 Heimatvertriebene waren gekommen. Unter dem Zeichen unserer Landsmannschaft, der Elchschaufel, versammelten sich Zehntausende aus Ostpreußen Vertriebene. Im Mittelpunkt der Großkundgebung stand die Rede des stellvertretenden Sprechers der Landsmannschaft Ostpreußen, Dr Alfred Gille, die in der Mahnung gipfelte: Verewigt nicht das Unrecht!

Ja, es ist so, als sei das gestern gewesen. Es hat sich eingebrannt in das Gedächtnis wie ein Dekor in Cadiner Majolika, nicht löschbar. Und das ist gut so.

Foto: Schwieriger Anfang: In einer Baracke in der Hamburger Wallstraße war der erste Hauptsitz der Landsmannschaft; Zeitzeugin: Ruth Geede


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