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08.11.08 / Zwei Generationen in Masuren / Was ein alter Ostpreuße mit einer jungen Hamburgerin in seiner Heimat erlebte – Mehr als 3000 Seen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-08 vom 08. November 2008

Zwei Generationen in Masuren
Was ein alter Ostpreuße mit einer jungen Hamburgerin in seiner Heimat erlebte – Mehr als 3000 Seen

Die Reise, die der alte Ostpreuße und die junge Hamburgerin gebucht hatten, stand unter dem Titel „Masurische Impressionen“. Aber schon der erste Blick auf das Programm zeigte, daß die Ausflüge auch durch das Ermland führen würden. Es wurde ein unvergeßliches Erlebnis.

Impressionen – vielfältig, zwiespältig, eindrucksvoll! Das Golebiewski-Hotel in Nikolaiken war im letzten Jahrzehnt mächtig in die Breite gegangen, dank des internationalen Zustroms von Gästen in die berühmte Landschaft. In die Höhe durfte es nicht weiter wachsen, das verhinderte eine umsichtige Bauaufsicht. Aber in die Silhouette eines Fischerdorfes, wie es der alte Ostpreuße in Erinnerung hatte, fügt es sich nicht so recht ein. Immerhin liegt es außerhalb der Ortschaft, und Management und Personal werden mit jedem Ansturm fertig und achten auf Qualität.

Aber ein Fischerdorf ist Nikolaiken längst nicht mehr. Die große Zahl der Segelboote, die zahlreichen Restaurants und Andenkenläden ließen die junge Hamburgerin an die schleswig-holsteinische Ostseeküste denken, und auch der Stinthengst an der Brücke trug dem Ostpreußen einen erstaunt-fragenden Blick ein: Er glänzte keineswegs silbern in der Sonne, sondern dümpelte plastikgrün an seinem Brückenpfeiler. Aber immerhin schmückte auch ihn eine Krone.

Als Seglern ist den beiden das Phänomen bekannt: Von Nikolaiken in den Spirdingsee geht es durch eine Enge, in der fast immer Flaute herrscht. An einem schönen Tag wie diesem stauen sich hier ein- und ausfahrende Boote, mit flatternden Segeln wird versucht, noch einen Windhauch einzufangen, Fender werden herausgehängt, um bei Berührungen Schäden zu vermeiden, oder es werden resignierend die Motoren angeworfen, denn die Ausflugsschiffe halten unbeirrt Kurs, kommen ihnen recht nahe und versetzen sie seitlich mit ihrem Schwell. Und dann öffnet sich der Blick auf die Weite des Spirdingsees, und die Hamburgerin, die schon viele große Seen gesehen hat, begreift, warum man diesen See das Ostpreußische Meer nennt.

Ob es über Lyck nach Goldapp, über Lötzen nach Angerburg, über Sensburg nach Rastenburg oder über Ortelsburg nach Allenstein ging: Über die Vielfalt der Landschaft hatte der Ostpreuße nichts Falsches gesagt. Hier hügelige Moränenlandschaft, dort flaches Land, das einen weiten Blick zuläßt, geschwungene, von großen Bäumen dichtgesäumte Alleen, deren Kronen über der Straße zusammengewachsen waren, und immer wieder Wälder und Seen. Da fällt dem Alten eine Episode ein. Als er als heimatvertriebener junger Gymnasiast nach seiner Herkunft gefragt wurde und etwas wehmutsvoll und auch ein wenig pathetisch geantwortet hatte: „Ich komme aus dem Land der 1000 Seen“, da hatte er von seinem Lehrer die spitze Antwort erhalten:

„1000 sind wohl etwas übertrieben!“ Nun ja, nur weil ein paar Dackel behauptet hatten, in Ostpreußen Bernhardiner gewesen zu sein, hätte man nicht alles für Übertreibungen halten müssen. Tatsächlich gibt es mehr als 3000 Seen in Ostpreußen, die diesen Namen verdienen.

Kleinort – ein Kleinod in der Johannisburger Heide! Man hört die Stimme Ernst Wiecherts, wie er sein Elternhaus beschreibt, man sieht vor sich, was man gerade vom Band hört, und man ahnt die Sehnsucht, mit der der jugendliche Gymnasiast in Königsberg an sein Zuhause denkt, in das er nur noch in den Ferien zurückkehren kann. Immerhin – wenigstens in den Ferien, geht es dem Ostpreußen durch den Kopf.

Ein ständiger Begleiter auf den Ausflügen war Heinrich. Er kannte jeden Ort, durch den man fuhr, nicht nur mit dem polnischen Namen und dem deutschen, sondern auch mit dem masurischen. Auch die dazugehörige Geschichte war ihm geläufig. Das alles trug er in breiten ostpreußischen Dialekt vor. Kein Wunder, der 78jährige hatte in Kindheit und Jugendzeit nur diesen gehört und gesprochen. Die Flucht in den Westen war mißlungen, sein Vater nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft bald gestorben. Ausreiseanträge wurden abgelehnt, und nachdem auch seine Mutter gestorben war, sah der junge Physikstudent keine Möglichkeit mehr für einen Neuanfang im Westen. Er wurde polnischer Staatsbürger. Deutscher und Pole, was einmal ein Zwiespalt war, ist heute zukunftsweisend. „Und seine Heimat ist ihm immer erhalten geblieben“, sagte der alte Ostpreuße mit etwas Wehmut.

Ordensburgen vielerorts, irgendwann einmal zerstört, wiederaufgebaut, umgewidmet als Gefängnis oder Heim, am Ende des Krieges wieder zerstört und wieder aufgebaut. Ob man das trutzige ehemalige Schloß der ermländischen Bischöfe in Rößel besucht, die ebenfalls trutzige evangelische Kirche in Sorquitten, das Freilichtmuseum in Hohenstein mit Windmühlen, einer Schmiede und vielen Bauernhäusern, von denen einige früher in Königsberg zu besichtigen waren, ob die Altstadt von Allenstein oder auch kleinere Städte und Dörfer, überall sind Aufbauwille, Rekonstruktionsgeschick und Traditionsbewußtsein erkennbar. Und selbst das Bauernhausmuseum in Zondern mit den unsystematisch zusammengebrachten Gebrauchsgegenständen, die man noch aus den 30er Jahren kennt, wenn man denn alt genug ist, besticht durch den Versuch, Altes zu bewahren. Diejenigen, deren Wiedersehensfreude mit einem alten Staubsauger, dem Volksempfänger oder der Schüssel aus Porzellan für die morgendliche Wäsche sich in Grenzen hielt, versöhnte Christel mit Striezel und Anekdoten. Letztere, mundartlich eingefärbt, nahmen im Laufe der Bekanntschaft an Derbheit zu, was gebürtige Ostpreußen allerdings im allgemeinen nicht besonders schockieren kann. So wurde denn auch der Merkspruch über die Landesfarben Masurens mit Lachen aufgenommen: „Blau sind die Augen vom Raufen, rot ist die Nase vom Saufen, weiß ist das Haar vom Huren, das sind die Farben der Masuren!“ „Da ist dem Reim die richtige Reihenfolge geopfert worden. Wenn mich nicht alles täuscht, ist sie blau-weiß-rot. In dem Spruch ist sie allerdings logischer“, flüsterte der alte Ostpreuße seiner Begleiterin zu. Ihren Blick unter hochgezogenen Augenbrauen auf seine weißen Haare wehrte er mit Kopfschütteln ab: „Ich bin kein Masure, ich bin Königsberger“.

Zwiespältige Gefühle in Niedersee. Erinnerungswehmut und die Freude an der Schönheit dieser Landschaft wechselten sich ab. Der Niedersee mit seinen baumbestandenen Ufern und den Inseln hat seinen alten Reiz bewahrt. Der Ort hat sich verändert, vergrößert. Nicht die Pension und nicht einmal die Straße konnte der Ostpreuße wiederfinden, in der er vor 65 Jahren gewohnt hatte. Und das lag nicht an seinem Erinnerungsvermögen. Eine Frau fiel ihm auf, die wie er auf der Suche war. 1952 hatte sie Niedersee verlassen. 1945 war ihre Familie bis in die Nähe von Rastenburg gekommen, dann hatten die Sieger sie eingeholt. Sie hat als Kind Schreckliches erlebt und gesehen und kann es auch heute noch nur unter Tränen andeuten. Auch die anschließende Zeit in Niedersee war erfüllt von Ängsten und Entbehrungen. Nach 56 Jahren ist sie nun auf Besuch in ihrer Heimat und kann sich mit der veränderten Straßenführung nicht zurechtfinden. Ihr Zuhause gibt es nicht mehr.

Bis in die Nähe von Rastenburg waren sie gekommen. Die Wolfsschanze war schon gesprengt und gab und gibt noch Zeugnis vom Zynismus der braunen Machthaber. In ihrer Angst vor Fliegerbomben und Attentaten versteck­ten sie sich unter Tonnen von Beton, während sie Millionen von wehrlosen Zivilisten den rechtzeitigen Fluchtversuch verboten und Millionen von jungen Männern nahezu ungeschützt in die Schützengräben schickten, nur um ihr eigenes Leben ein wenig zu verlängern.

Impressionen über Impressionen! „Wo gibt es einen riesigen Via­dukt, auf dem zwar Schienen liegen, auf dem aber nie ein Zug verkehrt hat? Nur in Ostpreußen! Wo gibt es einen See, der mit donnerndem Getöse Wasser und tonnenschwere Lehmbrocken in die Luft schleudert, nachdem sich eine riesige Gasblase unter ihm gebildet und dann entzündet hat? Nur in Ostpreußen! Und wo gibt es eine Stakenfahrt unter Bäumen hindurch?“ „Auf der Kruttinna und im Spreewald“, antwortete die Hamburgerin, „aber dein Ostpreußen ist wirklich einmalig mit den vielen mal blauen, mal grünen Seen, den Wäldern und Wiesen mit den vielen Störchen, der architektonischen Vielfalt in den Orten, einem Klima, das keine Schlappheit aufkommen läßt, und der Intensität seiner Farben! Leuchtende Natur! Dein Ostpreußen ist ein Land zum Wiederkommen!“    Klaus-Dieter Kaspereit

Fotos: Nikolaiken: Die masurische Stadt mit ihrem Hafen ist insbesondere für Segler ein Paradies; Wandern in Masuren: Nicht nur Wasserratten hat Ostpreußen viel zu bieten.


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