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08.11.08 / Wie eine Pusteblume

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-08 vom 08. November 2008

Wie eine Pusteblume

Tod und Sterben sind Wörter, die heutzutage meistens tabuisiert werden. Selbst Wilhelm Busch, der weise Dichter, vermeidet sie: „So ist es auf der Reis‘ hinnieden, einer nach dem andern steigt aus, der Zug saust weiter, bis die Station kommt, an der man selbst aussteigen muß.“ Jede Lebensreise beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod. „Klar. Sterben müssen wir alle. Is nix Neues“, sagt man. Aber haben wir, die wir noch auf der Reise sind, das auch bewußt akzeptiert?

Alles Leben auf dem Erdball, ob Baum, ob Strauch, Blume oder Unkraut, jedes Gewächs, jedes Tier und jeder Mensch ist darauf angelegt, Nachwuchs zu erzeugen, und stirbt früher oder später selbst. Ist alles ein gottgewolltes Naturgesetz? Man sollte sich nicht scheuen, einmal im Freundeskreis darüber zu sprechen oder in stiller Stunde darüber nachzudenken.

Werden und Vergehen ist in der Natur immer sehr gut zu beobachten. So war ich im vergangenen Frühjahr im Zug unterwegs. Gebannt schaute ich aus dem Fenster und erfreute mich an der vorbeirauschenden Blütenpracht des Frühlings. Nur unterbrochen von gelbem Ginster säumten hell leuchtende Weißdornbüsche die Bahnstrecke. In angrenzenden Gärten präsentierten Obstbäume ihr Frühlingskleid, ebenso Forsythien und Magnolienbäume. Selbst das Grün der Wiesen war vom Gelb unzähliger Butterblumen übertüncht. So ein üppiges Blühen hatte ich in einem so kurzen Zeit-raum noch nie bewußt wahrgenommen.

Als der Zug auf freier Strecke hielt, ging ich auf den Gang und öffnete ein Fenster. Vor mir sah ich ein rostiges Ausweichgleis mit rissigen Holzbohlen liegen, dazwischen der übliche Schotter. Und inmitten dieses graubraunen Schotters – ich traute meinen Augen kaum – reckte ein kleines Butterblümchen sein Köpfchen hoch. Mein erster Gedanke: Könnte ich dir doch einen Schluck Wasser geben. Mein zweiter: Auch du kleines Wesen willst unbedingt Nachwuchs hinterlassen, willst eine Pusteblume werden, und der Wind wird deinen Samen zur Wiese tragen … Diese kleine Blume hat mein Herz noch lange bewegt.

Hildegard Rauschenbach


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