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08.11.08 / Die Geschichte der Lust / Historiker sieht Verdrängung der Sexualität als Motor der Kultur

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-08 vom 08. November 2008

Die Geschichte der Lust
Historiker sieht Verdrängung der Sexualität als Motor der Kultur

Noch bis in die 1970er Jahre war Sexualität ein Tabuthema. Inzwischen sind längst namhafte Studien in unübersehbarer Zahl dazu veröffentlicht worden. Beides ist kein Zufall, sondern hat mit dem Kulturwandel seit Ende der 60er Jahre zu tun. Die vorher bestimmende Kultur des Verschweigens und Verdrängens wurde damals in der westlichen Welt fast übergangslos abgelöst von einer  Fixierung auf die Sexualität, die das Thema auch ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses

rückte. Auf dieses ebenso weitläufige wie unwegsame Terrain hat sich der renommierte Pariser Historiker Robert Muchembled begeben, dessen jüngstes Werk „Die Verwandlung der Lust“ nun in deutscher Ausgabe erschien. Darin befaßt er sich, wie der Zusatztitel angibt, mit der „Geschichte der abendländischen Sexualität“. Doch das ist etwas unpräzise formuliert, da er sich in seiner Untersuchung auf Frankreich und England seit 1500, dem Beginn der Neuzeit, beschränkt. Für die jüngeren Zeitabschnitte bezieht er die USA mit ein.

Der 1944 geborene Autor lehrt an der Universität Paris-Nord und hat mehrere Bücher zur Mentalitätsgeschichte verfaßt. In seinem jüngsten Übersichtswerk möchte er nachweisen, daß der früher im Bereich der Sexualität ausgeübte Kontrolldruck durch Kirche und Staat keineswegs nur negative Folgen für den einzelnen und die Gesellschaft hatte, wie die Sozialwissenschaft bisher durchweg behauptet. Er glaubt, die Verdrängung der Triebe habe sich in der abendländisch-christlichen Gesellschaft sogar als Motor der Kultur ausgewirkt, indem laufend innovative Kräfte freigesetzt wurden, sei es in der Politik, der Kunst oder den Naturwissenschaften: „Die Originalität unseres kollektiven Gefüges hat mit dem beständigen Bemühen zu tun, das fleischliche Begehren zu kontrollieren und in eine andere Richtung zu lenken.“

Muchembled ist ein großartiger Erzähler und verweilt gern bei der Beschreibung einzelner Fälle. Häufig handelt es sich um schriftliche Zeugnisse von Personen, die sich Freiräume für ihre von der Norm abweichenden sexuellen Neigungen verschafften und unter Neurosen und Gewissenskonflikten litten. Es gelingt Muchembled im Kapitel über die von Doppelmoral geprägte „viktorianische Epoche“, die er von 1800 bis 1960 ansetzt, seine These überzeugend zu belegen.

Angekommen beim „Erbe der Sixties“ löst sich jede Theorie in Luft auf. In der heutigen postmodernen Gesellschaft haben sich die Vorzeichen umgekehrt: Die Sexualität wird selbst zur Tyrannei. Bei dem gleichzeitig vorhandenen Überangebot an Nahrung hat die postmoderne Epoche zugleich ein allgemeines Streben nach Selbstverwirklichung, Schönheit und ewiger Jugend hervorgebracht. Amerika ist mehr denn je gespalten in eine nach europäischer Art mehr zum Hedonismus neigende und eine ultrakonservativen Hälfte. Doch der Autor möchte nichts wissen von dem von „manchem mürrischen Moralisten behaupteten Niedergang unserer Kultur“. Er glaubt, daß der Weg hin zu „neuen Formen der sozialen Bindung“ führt. Leider geht er kaum auf die Kommerzialisierung der Sexualität ein, die der Enttabuisierung der Lust folgte. Es fehlt der Hinweis darauf, daß dies alles – wenigstens zum Teil – die Folge einer weiteren, neuartigen Tyrannei ist, der des Marktes.        Dagmar Jestrzemski

Robert Muchembled: „Die Verwandlung der Lust – Eine Geschichte der abendländischen Sexualität“, DVA, München 2008, geb., 383 Seiten, 24.95 Euro


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