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20.12.08 / Auch 1945 gab es deutschfreundliche Tschechen / Premsyl Pitter rettete Hunderte deutsche und jüdische Kinder – Humanist und engagierter evangelischer Christ

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 51-08 vom 20. Dezember 2008

Auch 1945 gab es deutschfreundliche Tschechen
Premsyl Pitter rettete Hunderte deutsche und jüdische Kinder – Humanist und engagierter evangelischer Christ

Seit Jahrhunderten leben Deutsche und Tschechen im böhmisch-mährischen Raum zusammen, aber kulturell steht eine chinesische Mauer zwischen ihnen, wußte der Literaturkritiker Pavel Eisner bereits 1935 in einem Rundfunkvortrag zu beklagen. Aber es gab auch erwähnenswerte Ausnahmen, wie einen Emanuel Rádl oder einen Premysl Pitter, die sich um das deutsch-tschechische Verhältnis verdient machten.

Die Ursachen der wechselseitigen Aversion zwischen Tschechen und Deutschen hatte bereits 1921 Richard Coudenhove-Kalergi, Begründer der Pan-Europa-Idee, drastisch formuliert: „Die Deutschen treiben eine Politik der Starrköpfigkeit, die Tschechen eine des Ressentiments. Beide Völker leiden an dem engen Horizont ehemaliger österreichischer Provinzler.“

Kalergis Aufsatz wird in der Tschechischen Republik oft nachgedruckt, jedoch merkwürdigerweise ohne sein enthusiastisches Lob des dort bis heute hoch angesehenen Staatsgründers und ersten Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk. Denn der Demokrat Masaryk war ein Urheber der Ideologie, „daß der Sinn des Tschechentums im Kampf gegen das Deutschtum liegt“. – „Die Deutschen“, so Masaryk, „kamen als Emigranten und Kolonisten ins Land“, sie hätten hier nichts zu suchen oder zu fordern.

Solche Auffassungen kritisierte das Buch „Válka Cechu s Nemci“ (Der Krieg der Tschechen mit den Deutschen), das Emanuel Rádl 1928 veröffentlichte und im selben Jahr noch auch auf Deutsch erschien. Rádl (1873–1942) gehörte als Biologe zur europäischen Forscherelite, wandte sich ab 1918 aber der Philosophie zu, die er im Sinne seiner christlich-pazifistischen Weltanschauung betrieb. Seine besondere „Sorge“ galt den Sudetendeutschen, die er noch 1935 aufforderte: „Wartet nicht auf fremde Führer, werdet selber Führer eures Volks.“

Rádls Buch war eine Abrechnung mit dem tschechischen Nationalismus und mit Masaryks Urteilen über Deutsche, die der Präsident später gern ungeschehen gemacht hätte. Im Grunde war er mit Rádl einig, daß Menschenrechte der Maßstab von Demokratie seien. Das von ihm geprägte Bild der Deutschen als „Landesfremde“ fand alltschechischen Beifall, wovor Rádl hellsichtig warnte. Die tschechische Politik gegenüber den 3,4 Millionen Deutschen im Land sei falsch und berge Konflikte: „Deutschland wird gewiß den Versailler Frieden korrigieren, und dagegen wird es weltweit keinen Protest geben. Österreich wird sich mit Deutschland vereinigen, der Danziger Korridor wird liquidiert, das Nationalitäten-Prinzip, mit welchem man gegen Deutschland kämpfte, wird zur Waffe in deutschen Händen.“

Ein Anhänger und Schüler Rádls war der Prager Pädagoge Premysl Pitter (1885–1976), den die meisten Tschechen bis heute so beharrlich ignorieren, wie die restliche Welt ihn ehrt, und dessen 100. Geburtstag die Unesco 1995 zum „Weltkulturjubiläum“ erklärte. 1933 hatte Pitter in Prag das „Milíc-Haus“ gebaut, eine Tagesstätte für arme Kinder, benannt nach dem Bußprediger Johannes Militsch von Kremsier aus dem 14. Jahrhundert. Viele Kinder sind oft und gern hierher gekommen, darunter auch Václav Havels erste Frau Olga. Als Böhmen und Mähren deutsches „Protektorat“ waren, blieben Pitter und das Haus weithin unbehelligt, obwohl die Gestapo – wie Pitter selbst und weitere glaubwürdige Zeugen berichten – wußte, daß hier auch jüdische Kinder verborgen und versorgt wurden.

Am 5. Mai 1945 brach in Prag ein Aufstand gegen die Deutschen aus. Der „Tschechische Nationalrat“, die neue oberste politische Macht, beauftragte Pitter, sich um jüdische Kinder im Ghetto Theresienstadt zu kümmern. Für deren Unterbringung hatte man ihm vier leerstehende Prager Schlösser überlassen, auch um sie vor weiterer Verwüstung durch russische Soldaten zu bewahren.

Ab Juli 1945 wagte Pitter ein wahrhaft einmaliges Experiment: Er brachte in seinen Schlössern jüdische, tschechische und deutsche Kinder zusammen. Pitters Einmaligkeit lag darin, daß er sich bewußt einer Welle des antideutschen Hasses entgegenstemmte, die ab Mai 1945 durch Böhmen und Mähren ging. Deutsche wurden in Lagern zusammengepfercht, Exzessen und Lynchmorden ausgesetzt. Diese „wilde Vertreibung“ der Deutschen hatte die Regierung gewollt, die dabei angewandten Methoden brandmarkte Pitter als „Kopie von SS-Methoden“. Erst vor wenigen Jahren wagte der Tschechische Rundfunk eine Lesung aus seinen „Nachrichten aus dem Milíc-Haus“, in denen er anklagte: „Von 13 Lagern in Prag habe ich 10 gesehen. Ende Juli waren dort 10000 Männer und Frauen interniert und 1500 Kinder. Kinder und Erwachsene, Alte und Kranke, alle lagen dort durcheinander. Die Kindersterblichkeit ist groß, Säuglinge sterben ausnahmslos.“ Im Juli 1945 befreite Pitter erstmals 56 deutsche Kinder aus der „Hölle“ der Lager, später mehr. Von Mai 1945 bis Mai 1947 rettete Pitters „Aktion Schlösser“ 810 Kinder, darunter 266 jüdische und 407 deutsche aus tschechischen Internierungslagern. 2005 hat der Prager Regisseur Tomáš Skrdlant in einem Film dokumentiert, mit wie viel Liebe sich die damaligen Kinder bis heute an „Onkel Pitter“ erinnern.

Unter den Tschechen hat fast niemand Pitter geliebt, die 1948 zur Macht geputschten Kommunisten haben ihn gehaßt und im August 1951 zur Flucht getrieben. Mit seiner Schweizer Lebensgefährtin Olga Fierz (1900–1990) landete er in Nürnberg, wo er für den Weltkirchenrat in einem Flüchtlingslager tätig war. Später ging er in die Schweiz. Immerhin blieb ihm die Anerkennung zu Lebzeiten nicht versagt: 1966 ehrte Israel ihn als „Gerechten unter den Völkern“, und Bundespräsident Gustav Heinemann verlieh ihm 1973 das Bundesverdienstkreuz. Zudem erinnert seit ein paar Jahren das „Pitter-Archiv“ im Prager Comenius-Museum an ihn – und an sein Credo: „Jede Doktrin, die die Vergöttlichung von Menschen, Völkern oder Staaten anstrebt, ist teuflisch und führt unbedingt ins Verderben. Auch in meinem Volk verbreitet sich dieser Ungeist und bringt schlimme Resultate. Solange ein Volk nicht die eigene Schuld bekennt und sühnt, gibt es keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft.“            Wolf Oschlies

Foto: Waisenkinder im August 1945: Sie haben mit der der Obhut „Onkel Pitters“ Glück im Unglück.


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