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24.01.09 / Ein Wink des Himmels oder Der Erzähler

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-09 vom 24. Januar 2009

Ein Wink des Himmels oder Der Erzähler

Es war wirklich zum Verzweifeln. Der alte Mann schüttelte verärgert den Kopf und grummelte leise vor sich hin, so daß ihn keiner der Passanten verstehen konnte. Was sollte es auch, sagte er sich. Es hörte ihm doch keiner zu. Er hatte es ja selbst schon gemerkt: Seine Geschichten waren immer dürftiger geworden, so als seien seine Worte wie ein Fluß in der Wüste versiegt.

Wann hatte alles eigentlich begonnen, fragte er sich. Damals, als er eine wunderschöne Geschichte hatte zum besten geben wollen und die Menschen sie einfach nicht hatten hören wollen? Damals, als sie anfingen zu kichern, wenn sie ihn nur sahen? Als sie hinter seinem Rücken tuschelten und er sich schließlich nicht mehr traute, mit dem Erzählen auch nur anzufangen?

Dabei brauchten die Menschen doch seine Geschichten, sie wußten es nur nicht. Sie brauchten sie, um das Leben zu verstehen, um ihr Leben meistern zu können. Früher sprachen sie von Gleichnissen, die ihnen das Leben erklärten. Und es war so einfach gewesen, das Geschichtenerzählen. Immer fing er seine Geschichten mit denselben drei Worten an: Es war einmal …

Heute gelang es ihm nicht einmal, diese drei Worte über die Lippen zu bringen. Wenn doch nur ein einziges Kind ihm zuhören würde … Der Alte seufzte. Aber die Jungen wollten seine Geschichten schon gar nicht hören. Sie liebten die laute Musik und die kurzen, nichtssagenden Storys, wie sie sagten, die sie aus dem Internet herunterladen konnten. Ihn gab’s nicht per Mausklick, ihn mußte man live erleben, um etwas davon zu haben.

Er konnte viel erzählen, früher. Und seine Geschichten waren auch nicht langweilig, man mußte nur genau hinhören.

Ups, der Alte wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen. Fast wäre er gestürzt. Was war das? Da lag doch ein Bündel auf dem Gehweg. Ein Bündel Mensch, denn es hatte Arme und Beine und offensichtlich auch einen Mund, denn es schrie: „Ja, zum Teufel, was soll denn das?“

„Oh Entschuldigung, eher das Gegenteil. Der Teufel ist grad nicht da. Ich wollte Ihnen nicht wehtun.“

„Dann schauen Sie, wo Sie hintreten, sind Sie blind?“

„Nein auch das nicht, Entschuldigung. Vielleicht blind in meinem Selbstmitleid. Aber was machen Sie hier?“

„Ich wohne hier“, entgegnete der Obdachlose. „Und Sie?“

„Ich grübelte nur darüber nach, warum die Menschen meine Geschichte nicht mehr hören wollen. Ich bin Geschichtenerzähler, aber ohne Publikum.“

„Geschichten? Ich liebe Geschichten, seitdem ich nicht mehr lesen kann. Die Augen, Sie wissen. Aber es gibt keinen, der mir welche erzählt. Alle sind mit sich selbst beschäftigt.“

Der Alte lächelte. Wenn das kein Wink des Himmels war. Er blickte kurz dankbar in die grauen, tiefhängenden Wolken und dann begann er mit leiser Stimme zu erzählen: Es war einmal ….        SiS


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