29.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
14.03.09 / Kein »tschechisches Generalgouvernement« / 1939 entstand das »Reichsprotektorat Böhmen und Mähren« – Politische Unterdrückung, wirtschaftliches Auskommen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 11-09 vom 14. März 2009

Kein »tschechisches Generalgouvernement«
1939 entstand das »Reichsprotektorat Böhmen und Mähren« – Politische Unterdrückung, wirtschaftliches Auskommen

Am 15. März 1939 errichtete Adolf Hitler das „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“. Die Unterwerfung des tschechischen Volkes war der erste offene Verstoß des NS-Regimes gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

„Heute Vormittag stand Prag im Zeichen der deutschen Machtergreifung auf tschechischem Boden. Während die Tschechen allenthalben würdige Ruhe bewahrten, riefen die Deutschen in größter Begeisterung ,Sieg heil‘ und ‚Wir danken unserem Führer‘“. So berichtete der Tschechische Rundfunk vor 70 Jahren, am frühen Morgen des 15. März 1939. Nach der Abtretung des Sudetenlands im Münchner Abkommen vom September 1938 folgte nun die Vereinnahmung des eigentlich tschechischen Gebietes. Dem hatte Präsident Emil Hácha zugestimmt, unter Zwang und einigen Zusicherungen Hitlers, daß den Tschechen Legalität und Autonomie „garantiert“ seien.

Was bewog Hitler, seine Partner von München, Frankreich und England derart zu brüskieren, nachdem sie ihm das Sudetenland als angeblich „letzte Territorialforderung in Europa“ konzediert hatten? Der deutsche Autor Sebastian Haffner hat diese Frage schon 1978 beantwortet: weil Hitler Krieg wollte und sein „jahrelanges Friedensgerede“ nur noch bedauerte. Das jetzige Protektorat – mit 49000 Quadratkilometern und 7,5 Millionen Einwohnern Niedersachsen vergleichbar – rundete sein „Großdeutsches Reich“ ab, verschaffte ihm eine hochentwickelte Industrie und Millionen qualifizierter Arbeitskräfte. Es entzog die Region dem Einfluß Frankreichs und zudem weite Teile des Reiches der Reichweite alliierter Bomber.

Nominell hatte das Protektorat alle staatlichen Attribute: eigene Staatsangehörigkeit, Regierung, Präsident, Verwaltung, Währung, und sogar die „Vladni vojsko“, eine 6500 Mann zählende „Regierungsarmee“. Oberste Instanz war allerdings der deutsche „Reichsprotektor“ Ex-Außenminister Konstantin von Neurath, der den Tschechen viel Spielraum ließ. Für Repressalien war sein Polizeichef Karl Hermann Frank zuständig, der im November 1939 tschechische Protestdemonstrationen mit Todesurteilen und der Schließung aller Hochschulen beantwortete. Neurath, gerade auf Dienstreise, billigte diese Überreaktionen nicht, da sie Berlins ökonomische Ziele in der Region störten: Zwangsverwaltung der Industrie, ständische Neuordnung des Agrarsektors, Zentralisierung des Finanzwesens und Einführung von Lebensmittelkarten. Bis Kriegsende blieb Neurath nominell im Amt, wurde faktisch aber im September 1941 durch Reinhard Heydrich, Chef des „Reichssicherheits-Hauptamtes“ und Hauptorganisator der „Endlösung der Judenfrage“, abgelöst.

Heydrich haßte Tschechen, die „lachenden Bestien“, die „hier im Grunde nichts zu suchen haben“. Nach dem „Endsieg“ wollte er sie „eindeutschen“ oder vertreiben. Bis dahin aber gewährte er ihnen fast eine Vorzugsbehandlung: höhere Rationen für Arbeiter, bessere Gesundheits- und Sozialbetreuung, Urlaubs- und Kulturmöglichkeiten. Das wirkte: Der ohnehin unterentwickelte Widerstand kam fast zum Erliegen, zum Entsetzen der tschechischen Exilregierung unter Edvard Benesch in London, die Mißtrauen der Alliierten fürchtete.

In dieser Lage kamen zwei Männer ins Spiel, die außer ihren Nachnamen nichts gemein hatten. In London organisierte Frantisek Moravec, seit 1934 Chef des militärischen Geheimdienstes, ein Attentat auf Heydrich: Am 27. Mai 1942 wurde dieser von eingeflogenen Agenten mit einer Handgranate so verletzt, daß er eine Woche später starb. In Prag richtete Bildungsminister Emanuel Moravec – vor dem Münchner Abkommen noch ein glühender Patriot – das Protektorat auf devoteste Kollaboration aus: „Wehe dem tschechischen Volk, wenn die Verbrecher nicht gefaßt werden.“

Dem Attentat folgte die „Heyd­richiade“ mit Standrecht und Todesurteilen. Tschechische Historiker sprechen von 5000 Opfern, der deutsch-tschechische Autor Rudolf Ströbinger nannte 1976 3188 Verhaftungen und 1357 Todesurteile, der Sudetendeutsche Rat zählte 2007 „rund 1700“. Die Zahlen passen allerdings durchaus zusammen, da die tschechische Zahl offenbar die Verhafteten einschloß, während Ströbinger die rund 250 ohne Todesurteil getöteten Bewohner von Lidice nicht mitrechnet.

War das Attentat diese Opfer wert? Alleiniger „Sieger“ war Benesch. Er gewann in London Widerstands-Meriten und konnte Frankreich und England zur Annullierung ihrer Münchner Unterschriften bewegen.

Im Protektorat übte man sich in alltäglicher Normalität, bilanzierte 2002 der Historiker Petr Koura: „Obwohl das Protektorat eine ziemlich schwere, blutige Zeit war, ging das Leben weiter. Die Leute lebten inmitten von Kultur, es gab sportliche Wettbewerbe, Theatervorstellungen fanden statt, Filme wurden gedreht.“ Vor allem funktionierte das Schulwesen. Zwar waren Hochschulen geschlossen und standen alle Schulen unter Germanisierungsdruck und strengster Aufsicht, aber Bereiche wie die Berufsschulen waren sogar besser als früher. Die Gründe nannte der Schulhistoriker Frantisek Morkes 2006: Die Deutschen hatten diese Schulen gestrafft und auf Großbetriebe ausgerichtet, wo sie früher auf tschechische Kleinproduktion orientiert waren.

Der tschechische Autor Jan Drabek hat in seiner Autobiographie „Ohrenzeuge im Protektorat“ Details „aus der Froschperspektive“ genannt: Kino und Theater liefen weiter, Zeitungen erschienen (wenn auch nur noch 300 von einst 2200 Printmedien), der relativ wenig zensierte Rundfunk demonstrierte mit seinem breit gefächerten Programm national-kulturelles Eigenleben. Und er öffnete ein Tor zur Welt: Fast alle Tschechen hörten BBC und weitere Auslandssender, obwohl das bei Todesstrafe verboten war. Kopien von „Protektoratsfilmen“ sind bis heute Renner in Prager DVD-Läden: Ganze Genres wie Zeichen-, Experimental- und Literaturfilm wurden damals geboren, Filmstars wie Lída Baarová, Ex-Geliebte von Propagandaminister Joseph Goebbels, verschafften der Filmszene unendlichen Spielraum. Im Prager Nationaltheater feierte die Sängerin Marie Podvalová Triumphe, vor allem mit patriotischen Opern wie Smetanas „Libuse“.

Das Protektorat wurde so gut wie nie bombardiert, Tschechen dienten nicht in der Wehrmacht (obwohl Hácha, Moravec und andere das mehrfach anboten), vor Arbeitseinsätzen im Reich schützten sie sich durch frühe Heirat und Kindersegen. Die Bevölkerungszahl nahm laufend zu, und mit ihr die Zahl der Arbeitskräfte: 1939 gab es 1332000 Arbeiter und 1895000 Angestellte – 1944 waren es 1701000 beziehungsweise 2429000. Entsprechend stieg auch die „Kriegssteuer“: von drei Milliarden Kronen im Jahre 1940 auf zwölf Milliarden 1944, wobei zehn Kronen einer Reichsmark entsprachen.

Kurz: Die Jahre 1938 bis 1945 ließen sich für die Tschechen besser als befürchtet, für Sudetendeutsche aber schlimmer als erhofft an: Sie waren als Reichsbürger wehrpflichtig und als Ex-Bürger der Tschechoslowakei Verdächtigungen und Diskriminierungen ausgesetzt. Opfer mußten in fünfeinhalb Protektoratsjahren alle bringen. Wie viele? Konrad Badenheuer zählte 2007 rund 95000 Opfer: 78000 Juden, rund 12000 Tschechen und 6500 Roma. Dazu kommen noch etwa 190000 Kriegsopfer unter der Deutschen der böhmischen Länder und etwas über 1000 deutsche NS-Opfer. Prager Militärhistoriker kamen 2001 auf insgesamt 343000 Toten. Allerdings beziehen sich diese Zahlen auf ein anderes Gebiet, gefragt war hier die Zahl „tschechoslowakischen“ Toten. Sie schließt also die sudetendeutschen Gefallenen nicht ein, dafür aber die Slowaken (auch wenn die auf deutscher Seite kämpften), außerdem die jüdischen Opfer auch in der Slowakei und in den ungarischen und ukrainischen Gebieten, die die Tschechoslowakische Republik (CSR) bereits im Oktober 1938 mit dem Münchner Abkommen verloren hatte.       

Wolf Oschlies

Foto: Die „Regierungsarmee“: Eines der vielen staatlichen Attribute des Protektorates


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren