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21.03.09 / Licht und Schatten / Das 19. Jahrhundert aus der Sicht einer Fotografin

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 12-09 vom 21. März 2009

Licht und Schatten
Das 19. Jahrhundert aus der Sicht einer Fotografin

„Das eine Auge des Fotografen schaut weit geöffnet durch den Sucher, das andere, das geschlossene, blickt in die eigene Seele.“ Dieser Ausspruch des französischen Meisterfotographen Henri Cartier-Bresson charakterisiert die außergewöhnliche Hauptfigur aus dem zweiten Roman der australischen Schriftstellerin Gail Jones. „Sechzig Lichter“ wurde bereits in mehrere Sprachen übersetzt. Das Buch erzählt die Geschichte der jungen Australierin Lucy Strange, die das Schicksal im 19. Jahrhundert zur viktorianischen Zeit um den halben Erdball treibt. Nach dem frühen Tod ihrer Eltern holt ihr skurriler Onkel Neville sie und ihren Bruder Tom, halb verwahrlost, nach London. Als dieser vor dem finanziellen Ruin steht, müssen beide arbeiten gehen. Ganz im Sinne des Fotografie-Themas fängt Tom eine Ausbildung in einer Laterna-Magica-Produktion an, während Lucy eine Anstellung in einer Album-Fabrik findet, die lichtempfindliches Papier herstellt. Ein Lichtblick in diesem städtischen Elend eröffnet sich, als Lucy mit Isaac Newton, einem Freund ihres Onkels, verheiratet werden soll und nach Indien reist. Doch auf der Schiffsfahrt dorthin gibt sie sich der sinnlichen Affäre mit einem Passagier hin, deren Folgen nicht verborgen bleiben. Mit ihrem unehelichen Kind kehrt Lucy nach London zurück. Hier beginnt sie ihren Weg als Fotografin – jener neuen Kunst des 19. Jahrhunderts, mit der sie gewissermaßen das flüchtige Leben einfangen kann. Jones läßt ihrer Heldin allerdings nicht viel Zeit, ihre Leidenschaft und Begabung auszuprobieren: Mit nur 22 Jahren stirbt Lucy an der Schwindsucht.

Der Roman gleicht einem verbalen Fotoalbum, durch das die Autorin blättert und den Leser an den intensiven visuellen Eindrücken Lucys teilhaben läßt. Scheinbar unverdächtige Dinge wie Geranien oder Hüte gewinnen in einem Spiel von Licht und Schatten, von Farben und Lichteffekten eine unerwartete Dramatik. Dabei schildert Jones die Momentaufnahmen mit soviel Liebe zum Detail, daß man sie fast durch den Text hindurch sehen kann: „Sie stellte die Frischvermählten vor den hinteren Eingang, so daß sie in einem starken, besonderen Licht standen und die Schatten der Blätter ihre Gesichter lichtdurchlöchert wirken ließen. Sie starrte sie an, wie sie zurückstarrten. Sie gaben sich Mühe, nicht zu blinzeln oder die Augen in dem für die Jahreszeit untypisch grellen Licht zusammenzukneifen.“ Häufig nimmt sie konkrete Beobachtungen zum Anlaß, hinter die Kulissen der Welt zu sehen.

Den tödlichen Unfall eines indischen Bauarbeiters etwa, der mit einem Spiegel auf ein Gerüst steigt und dessen Splitter sich beim Absturz in seine Brust bohren, reflektiert sie wie folgt: „Die Mengen an Blut waren erstaunlich. Es spritzte überall hin. Doch Lucy fiel vor allem auf – als sie dorthin eilte, um wie alle anderen Hilfe anzubieten –, daß der Spiegel das Funkeln nicht einstellte. Seine zerklüfteten Formen fingen noch immer die Welt ein, und einzelne Teile eines fragmentierten Indiens wurden auf seiner Oberfläche sichtbar.“ Sophia E. Gerber

Gail Jones: „Sechzig Lichter“, Edition Nautilus, Hamburg 2008, 223 Seiten, geb., 19,90 Euro


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