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11.04.09 / Eine späte Liebe

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 15-09 vom 11. März 2009

Eine späte Liebe
von Ruth Geede

Es ist die Geschichte einer späten Liebe, die einmal vor langen Jahren in einer kleinen ostpreußischen Stadt geschah. Ihre beiden Hauptakteure sind eine Lehrerin der Höheren Töchterschule, die kurz vor der Pensionierung stand und bis zu jenem österlichen Ereignis bar jeder männlichen Zuneigung gewesen war. Denn Fräulein Regine Gieseke vermied alles, was ihre Weiblichkeit hätte betonen können. Ihre nun schon leicht ergrauten Haare hatten nie eine Dauerwelle gesehen, sie bevorzugte strenge Kostüme, trotzte dem Regen mit einem Kleppermantel und der Kälte mit einem figurenfeindlichen Innenpelz aus Kanin. Sie war das, was man eine honorige Person zu nennen pflegte. Und deshalb konnte sie auch als weiblicher Gast ohne Begleitung im Gasthaus „Zur Post“ speisen, was damals durchaus nicht selbstverständlich war.

Die zweite Person in dieser Geschichte ist männlich und war in der kleinen Stadt ein Neuzugang. Es handelte sich um einen pensionierten Oberst, der sich einen ruhigen Alterssitz gesucht und ihn hier gefunden hatte. In einem der schönen Häuser in der Höhe am Fluß, in das er mit seiner stattlichen Bierhumpensammlung und dem auch schon betagten Schäferhund Rex gezogen war. Die Sache hatte nur einen Haken: Seine Wohnung lag genau gegenüber der Villa der Lehrerin, die nach dem Tod ihres Vaters, einem wohlhabenden Getreidekaufmann, das schöne Haus allein bewohnte. Fräulein Gieseke trug ihren Unwillen über diese neue Nachbarschaft sichtlich zur Schau, indem sie seinen höflichen Gruß so knapp wie möglich erwiderte. Auch in der „Post“, wo der Oberst nun ebenfalls zu speisen pflegte. Es hatte sich so ergeben, daß der Wirt für Fräulein Gieseke und zwei weitere Dauergäste, einen verwitweten Oberlehrer und einen jungen Referendar, einen „Lehrertisch“ eingerichtet hatte, an den er nun auch den Oberst platzierte. Was Fräulein Gieseke durchaus nicht recht war. Zumal der Oberst seinen Rex mitbrachte, und sie Hunde nicht ausstehen konnte.

Es ergab sich aber doch zwangsläufig, daß sich Fräulein Gieseke und der Oberst nach dem Mittag-essen in der „Post“ gemeinsam auf den Heimweg machten. Zuerst noch getrennt in zeitlichem Abstand, der dann immer geringer wurde, bis sie eines Tages zufällig gleichzeitig aus der Türe des Gasthofes traten. Mit stillem Vergnügen verfolgten die beiden anderen Tischgenossen den Abgang des ungleichen Paares, das sich aber, was das Schritt-Tempo betraf, in vollem Einklang richtig Flußhöhe bewegte. Der Oberst stellte zu seiner Verwunderung fest, daß die Lehrerin durchaus mit ihm Schritt halten konnte. Was ihm sehr gefiel. Ebenso, daß sie schweigen konnte. Das hatte er bei früheren Begleiterinnen nur selten erlebt.

So schwiegen sie sich zusammen, der Oberst und das Fräulein Gieseke. Und als dann doch hin und wieder ein Gespräch zustande kam, stellten sie insgeheim fest, daß ihre Ambitionen gar nicht so weit auseinanderdrifteten. Beide besaßen gute Kenntnisse über die Antike, waren aber auch für die Natur empfänglich und liebten die Stille. Die auch Rex akzeptierte, denn er bellte kaum. Was aber vielleicht auch an seinem Alter lag.

Wieder einmal stand das Osterfest vor der Türe, für Fräulein Gieseke das letzte vor ihrer Pensionierung. Ein wenig schmerzvoll war es schon für sie, daß sie nun zum letzten Mal die Versetzungszeugnisse geschrieben hatte, und demgemäß war sie in leicht wehmutsvoller Stimmung. Die noch beeinflusst wurde durch den Umschwung des Wetters mit warmen Südwinden, die in dem Buchenwäldchen am Fluß bereits Anemonen und Leberblümchen geweckt hatten.

Die gute Seele der Villa Gieseke, die nun auch schon ergraute, stämmige Frau Emma Makuth, hatte Gründonnerstagskringel gebacken und den Kaffeetisch im Erker gedeckt, von dem man auf das Nachbarhaus blicken konnte. Und als Fräulein Gieseke in den ersten Kringel beißen wollte, sah sie drüben gerade den Oberst aus dem Haus kommen.

Einer plötzlichen Eingebung folgend öffnete sie das Fenster und rief ihm zu: „Mögen Sie auch Gründonnerstagskringel, Herr Oberst?“ Eigentlich hatte sie gedacht, daß Emmchen ihm einen Teller mit dem Gebäck hinüberbringen sollte. Aber der Oberst nahm die Frage als Einladung an und rief zurück: „Ich komme gerne!“ Was er auch auf dem Fuße tat.

So saßen sie dann im Erker der Giesekschen Villa zusammen und genossen den Kaffee, den Emmchen extra stark aufgebrüht hatte. Verwundert hatte sie den Oberst die Türe geöffnet – wann hatte Fräulein Gieseke je Männerbesuch gehabt?

Vorsichtshalber holte sie aus dem Keller eine Cognacflasche und stellte sie mit zwei Kristallschwenkern auf das Beitischchen. Es war ein sehr alter, sehr guter Cognac. Das Gespräch wurde daraufhin lebhafter, ja fröhlicher, die Augen blanker, die Wangen röter. Emmchen vernahm das mit Verwunderung und mit leichter Sorge, denn sie mußte nun nach Hause.

Sie flüsterte noch Fräulein Gieseke zu: „Ich muß jetzt gehen. Können sie in zehn Minuten die Eier vom Herd nehmen, oder soll ich noch so lange bleiben?“

„Nein, nein, “ wehrte das Fräulein ab, „gehen Sie nur ruhig, ich mach das schon.“

Auch das war Tradition im Hause Gieseke: Am Gründonnerstag wurden zwei Dutzend Eier gekocht, die Regine am Karfreitag färbte.

Der Oberst nahm den Abgang der Haushälterin zum Anlaß, sich nun auch seinerseits zu erheben, denn es war reichlich spät geworden, um sich mit formvollendetem Handkuß zu verabschieden. Als Fräulein Gieseke ihren Besuch zur Haustür geleitete, atmete sie tief die unwahrscheinlich milde, würzige Luft ein. Was für ein Vorfrühling!

Man sollte noch einmal zum Fluß hinunter, meinte der Oberst, und ob das gnädige Fräulein ihn begleiten würde? O Wunder: Regine Gieseke sagte nicht nein. Sie holte ihren Mantel und schloß die Haustüre sorgfältig ab. „Ja, tun Sie das nur“, sagte der Oberst. „Sie haben sicher auch gehört, daß in der Nachbarschaft eingebrochen wurde. Drüben bei Hausmanns und vorgestern bei Menkes.“

Nein, das hatte sie nicht gehört. Das war ja schrecklich! So etwas war hier noch nie vorgekommen! Sie sprachen sehr aufgeregt darüber, als sie durch das Buchenwäldchen gingen, und berichteten davon auch dem Herrn Pfarrer, der am Fluß entlang wandelte, um noch einmal in Ruhe seine Karfreitagspredigt zu überdenken. Der Seelenhirt wunderte sich allerdings weniger über die Einbrüche als über das seltsame Paar, das ihm hier an dem – nur von einer Laterne beleuchteten – Flußufer zu so später Zeit begegnete.

Der Oberst geleitete Fräulein Gieseke bis zum Gartenzaun und verabschiedete sich mit vielen Dankesworten und Handkuß, wandte sich aber im Gehen noch einmal um: „Schließen Sie gut ab, meine Liebe! Und wenn Sie etwas Auffälliges hören sollten, dann werfen Sie einfach einen Stein an mein Fenster, ich komme sofort!“ „Das wird nicht nötig sein, Herr Oberst“, antwortete Fräulein Gieseke.

Sie schloß aber doch die Haustür sorgfältig ab, legte die Sicherheitskette vor und wollte noch einen Blick in die Kreiszeitung werfen. So machte sie es sich im Erkerzimmer gemütlich, aber dann überfiel sie doch die Müdigkeit, und sie beschloß, schlafen zu gehen. Vorher aber mußte sie noch das Kaffeegeschirr und die Gläser wegräumen. Sie betrat den dunklen Flur und wollte an dem Garderobentischchen das Geschirr abstellen, um den Lichtschalter zu drücken, als sie jäh stehen blieb: Aus der Dunkelheit war ein Geräusch zu ihr gedrungen, ein dumpfes, polterndes Geräusch. Es kam aus der Küche und wurde immer lauter. Jetzt knallte es sogar, es klang wie ein Pistolenschuß. O nein, der Einbrecher!

Fräulein Gieseke tastete nach dem Flurtisch, setzte das Geschirr ab und schlich sich zur Haustüre, die sie ganz leise öffnete. Der Garten lag im Dunkeln, aber tröstlich floß eine Lichtbahn über die noch kahlen Büsche. Sie kam aus einem Fenster der Wohnung des Oberst. Was Fräulein Gieseke nicht ahnte: Es war das Schlafzimmerfenster. Und der Oberst, satt und cognacmüde, war gerade dabei, sich in das Bett zu begeben.

Fräulein Gieseke ergriff eine Handvoll Erde und warf sie gegen das Fenster, an dem sich ein wirres Haupt zeigte. Erst als er das Licht löschte, erkannte er im dunklen Nachbargarten die winkende Gestalt. Er öffnete schleunigst das Fenster und rief: „Was ist los?“

„Psst“, machte die Gestalt und legte die Hände zur Flüstertüte zusammen. „Einbrecher!“

„Verstanden!“ nickte der Oberst, zog sich seinen Morgenmantel über, ergriff eine Taschenlampe und die alte Pistole, die an der Wand hing. Sie war zwar ungeladen, aber Waffe war Waffe. Dann schüttelte er den Hund aus dem Schlaf und zog ihn am Halsband hinaus. „Bei Fuß, Rex!“ So schlieften sie beide durch die Gärten zum Nachbarhaus.

„Wo?“ fragte er kurz, als Fräulein Gieseke aus dem Hausschatten auftauchte. „Da hinten im Flur, der Kerl muß in der Küche sein. Aber Vorsicht, er schießt!“

Es knallte dumpf, aber deutlich: „Buff! Buff!“

„Buff“ machte auch Rex und zog den Schwanz ein. Der Oberst schlich langsam an der Wand entlang zur Küchentüre. Hinter ihm Fräulein Gieseke mit der Taschenlampe, die ihr der Oberst in die Hand gedrückt hatte.

„Ich stoße die Türe auf und Sie leuchten hinein!“ befahl der Oberst. „Keine Angst, ich habe eine Waffe!“ Die ungeladene Pistole beruhigte Fräulein Gieseke doch sehr.

Was ihnen entgegenkam, als der Oberst die Küchentüre aufstieß, waren allerdings keine Einbrecher sondern dicke, schwarze Rauchschwaden. Sie kamen aus einem rotglühenden Kochtopf, der auf dem Herd polterte, und in dem es knallte und krachte.

„Die Eier!“ schrie Fräulein Gieseke entsetzt. „Die hatte ich ja total vergessen!“

Die von Emmchen aufgesetzten Eier hatten sich in harte, schwarze Kohlen verwandelt, die gegen Topfwände und Deckel knallten. Der Oberst tastete sich zum Küchenfenster vor, hakte mit dem Pistolenknauf den glühenden Topf vom Herd und warf ihn nach draußen.

„Melde, Einbrecher verjagt!“ sagte er zu der sonst so selbstsicheren Lehrerin für höhere Töchter, die jetzt blaß und sprachlos im Türrahmen lehnte. „Und falls Sie jetzt noch einen Cognac hätten, der täte uns beiden ganz gut.“

Erst als sie im Erkerzimmer saßen, wurde ihm sein nicht ganz schicklicher Aufzug bewußt: Unter dem alten Morgenmantel starrten seine nackten, behaarten Beine hervor, an den Füßen hingen die ausgetretenen Wuschen. Sein dürrer Hals stak aus dem Kragen des Flanellnachthemdes. Der Herr Oberst entschloß sich dann doch lieber, sofort zu gehen. Und ausgerechnet in dem Augenblick, als er sich in der offenen Haustüre von seiner Nachbarin verabschiedete, kam der Herr Pfarrer vorbei, der etwas länger auf einer Bank meditiert hatte und sich jetzt auf dem Nachhauseweg befand.

Im Schein der Gartenleuchte sah er den Oberst aus dem Haus von Fräulein Gieseke kommen. In Nachthemd und Morgenmantel, mit wirren Haar und reichlich mitgenommen.

Wie gesagt: Es war eine kleine Stadt. Und es geschah zu einer Zeit, da Tugendhaftigkeit noch einen hohen Stellenwert hatte.

Fräulein Gieseke und der Oberst zogen die Konsequenz: Sie heirateten. Und daß die späte Ehefrau ihrem Mann doch sehr zugetan sein mußte, konnte man daraus erkennen, daß Rex mit in die Villa Gieseke ziehen durfte. Obgleich der vor dem vermeintlichen Einbrecher den Schwanz eingekniffen hatte.

Aber bei echten Ganoven wäre das anders gewesen, die hätte er schon gestellt, meinte der Oberst … Er konnte das ruhig behaupten, denn der Einbrecher war noch in derselben Nacht festgenommen worden, als er in die Sakristei der evangelischen Kirche einsteigen wollte.


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