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11.04.09 / Peruanischer Orwell / Parabel auf Lateinamerika

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 15-09 vom 11. März 2009

Peruanischer Orwell
Parabel auf Lateinamerika

Schätzungsweise 70000 Menschen sind im peruanischen Bürgerkrieg umgekommen. Mehr als die Hälfte gehen auf das Konto der Rebellen-organisation „Leuchtender Pfad“. Sie führte seit Anfang der 1980er Jahren einen bewaffneten Kampf gegen die Regierung und verübte grausame Morde an der Zivilbevölkerung. Auch die Militärs, die der damalige Präsident daraufhin als Ordnungsmacht entsandte, überzogen die Andendörfer mit Massakern. Wechselseitige Vergeltungsschläge von Guerilla und Junta versetzten die Menschen auf dem Land in Angst und Schrecken. Tausende galten als „verschwunden“, aber die Öffentlichkeit schwieg.

Nicht so die Protagonistin in Daniel Alarcóns fiktivem Debütroman „Lost City Radio“. Die Geschichte spielt in einem unbekannten lateinamerikanischen Land, das viel Ähnlichkeit mit dem Heimatland des gebürtigen Peruaners aufweist. Nach einem blutigen Bürgerkrieg herrscht hier ein autoritäres Militärregime, das die alten Dorf- und Stadtnamen auslöscht und gegen Nummern ersetzt, um „zu vergessen, daß es je einen Krieg gegeben hatte“. Die von Angst, Unterdrückung und Zerstörung geprägte Atmosphäre erinnert stark an Schreckensszenarien, wie man sie aus Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ und George Orwells „1984“ kennt. Sinnbild dafür ist auch das außerhalb von Zeit und Raum liegende Staatsgefängnis „Mond“, wo Verdächtige verschwinden und in Erdlöchern stehend dahinvegetieren. Radiomoderatorin Norma arbeitet gegen das offiziell verhängte Vergessen der Regierung. Sie sucht in ihrer Kultsendung „Lost City Radio“ Woche für Woche nach Vermißten und führt Familien zusammen.

Eines Tages taucht im Sender der elfjährige Victor auf. Er übergibt Norma eine Liste aus seinem Dorf, unter denen sich auch der Tarnname ihres Mannes Rey befindet. Der Ethnobiologe, der offiziell im Dschungel nach Heilpflanzen suchte, verschwand vor zehn Jahren spurlos. Gemeinsam mit dem Jungen und dessen Lehrer Manaus entdeckt Norma, was damals wirklich geschah. Sie enthüllt Reys Doppelleben als Wissenschaftler und als Mitglied der Rebellenorganisation „Illegale Legion“, die große Parallelen zum „Leuchtenden Pfad“ aufweist. Es beginnt eine Reise in die Vergangenheit.

Mit seinem Debüt legt der Autor weniger einen historischen Roman über Perus jüngste Vergangenheit vor als vielmehr eine Parabel über die Zerrissenheit und Gewalttätigkeit des lateinamerikanischen Kontinents. Es geht um den fortwährenden Konflikt zwischen den sich globalisierenden Städten und dem rückständigen Hinterland, wo die Bauern indigener Abstammung de facto als Bürger zweiter Klasse ohne Schutz von Staat und Behörden leben und Opfer terroristischer Vereinigungen werden. Hier und da verliert der Text an Schärfe durch klischeehafte Phrasen, denen allerdings genaue Beobachtungen und pointierte Dialoge gegenüberstehen. Alarcón entfaltet zudem mit viel Liebe zum Detail seine Charaktere und veranschaulicht ihre Wünsche und Gedanken mit dem Kunstgriff der wechselnden Perspektive. Sophia E. Gerber

Daniel Alarcón: „Lost City Radio“,  Wagenbach, Berlin 2008, 315 Seiten, 22,90 Euro


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