© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 28-09 vom 11. Juli 2009

Russki-Deutsch (25):
Gulag
von Wolf Oschlies

Gulag ist eine Prägung aus der sowjetischen Bürokratensprache, ein Akronym aus „Glavnoe upravlenie lagerej“ (Hauptverwaltung der Lager). Weltbekannt wurde der Begriff 1974 durch Aleksandr Solschenizyns Werk „Archipel Gulag“, das Aufbau und Alltag von Stalins Zwangs- und Todeslagern schilderte. Als Institution entstand Gulag am 25. April 1930 und wurde am 25 Januar 1960 aufgelöst. Nur diese beiden Daten sind gesichert, alle anderen Details zum Gulag verschwimmen mehr oder minder. Er soll 476 Lager-„Komplexe“ mit Tausenden Einzellagern umfaßt haben, die sich in der Tat wie ein Archipel auf alle Regionen der Sowjetunion erstreckten. Von 1930 bis 1953, dem Todesjahr Stalins, sollen 18 Millionen Menschen im Gulag inhaftiert und 4,5 Millionen in ihm gestorben sein. 

Vor wenigen Jahren hat Aleksandr Jakowlew, Chef der Staatskommission zur Rehabilitierung politisch Verfolgter, erwähnt, daß die Sowjetunion von 1917 bis 1945 62 Millionen Menschen durch Kriege und politischen Terror verloren hat. Allein die Opfer des Zweiten Weltkriegs bezifferte er mit 30 Millionen, was nicht glaubwürdig und eine Verharmlosung des stalinistischen Terrors ist. Im Februar 1946 nannte Mos-kau „rund sieben Millionen“ Kriegstote. Die spätere Vervierfachung dieser Zahl ist nur so zu erklären, daß man die Opferzahlen des Gulag bei den Kriegstoten „versteckte“.

Es hat auch vor und nach Stalin russische Straflager gegeben, aber zum Stalinismus gehörte der Gulag einfach dazu: Nur durch ihn waren Funktionärsmacht, Zwangskollektivierung und Industrialisierung überhaupt möglich. Der Gulag basierte auf dem Prinzip der Selbstkostendeckung, aber mit Ausnahme der Speziallager für Wissenschaftler, die von Sol-schenizyn detailliert geschilderte „Scharaschka“, wurde menschliche Arbeitskraft im Gulag nie ökonomisch effizient genutzt. Er war ein „Fleischwolf“, wie die Gefangenen sagten, ein Mechanismus zur Menschenvernichtung, ein Ort mit siebenfach höherer Sterberate als anderswo.

In Rußland fehlt noch die ehrliche Auseinandersetzung mit dem Gulag. Sie würde zahllose Gestalten, „Errungenschaften“ und „Siege“ eintrüben, wozu man in Rußland noch keinen Mut hat.