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18.07.09 / Im Viehwagon nach Workuta / Königsbergerin erinnert sich in »Das gestohlene Jahrzehnt« an ihr Leid

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 29-09 vom 18 Juli 2009

Im Viehwagon nach Workuta
Königsbergerin erinnert sich in »Das gestohlene Jahrzehnt« an ihr Leid

Es ist gut, daß viele Vertriebene ihre Lebensgeschichte aufschreiben, um sie ihren Nachfahren zu hinterlassen, denn jede Aufzeichnung hat über den familiären Rahmen hinaus einen dokumentarischen Wert. Und manchmal sprengt sie auch diesen, wenn sie so großartig geschrieben ist, wie die von Ruth Buntkirchen, die mit Recht ihre Biographie als Buch herausgebracht hat. Sie nennt es „Das gestohlene Jahrzehnt“, denn es waren zehn Jahre ihres Lebens, in denen sie nicht nur einer unbeschwerten Jugend beraubt wurde, sondern auch alle physischen und psychischen Qualen erleiden mußte, die ein Mensch überhaupt ertragen kann. Es sind die Jahre zwischen 1945 und 1955, zwischen dem Inferno im sterbenden Königsberg, das sie als 18jährige erlebte, und der Heimkehr aus der sibirischen Taiga als junge Mutter. Wer dies Buch liest und nicht zu der Generation gehört, die diese Zeit erlebt hat, wird kaum glauben können, was diese Frau ertragen mußte – und wird es doch tun. Denn Ruth Buntkirchen hat dieses ihr gestohlene Jahrzehnt bis in alle Ecken ausgeleuchtet, so daß keine Fragezeichen bleiben. Es ist ein Buch wie aus einem Guß, so ganz ohne Pathos, fast atemlos erzählt und genauso zu lesen. Da wird schonungslos über alles berichtet, was diese Frau noch in der zerstörten Heimat, dann in der Gefangenschaft und einem „freien“ Leben – unter sowjetischer Kontrolle – durchmachte.

Ruth Buntkirchen nennt ihr Buch „Das gestohlene Jahrzehnt“, aber auf dem Einband sind vier Knollen zu sehen, rote Beten – ein gezeichneter Untertitel, denn diese vier Rüben bestimmten acht Jahre Gefangenschaft und „Freie Verbannung“ der im Raum Königsberg verbliebenen Ruth Schwarz und ihrer Mutter. Der Vater war verschleppt, die jüngere Schwester von den beiden Frauen getrennt, die in Deutsch-Eylau vegetierten, von Hungeroedemen gezeichnet. Ruth wurde nach Nierenversagen dank der Hilfe eines deutschen Arztes wieder soweit hergestellt, daß sie aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte. Vier Tage später die Verhaftung wegen der aus einem Garten „gestohlenen“ vier Roten Rüben und Verurteilung zu fünf Jahren Zwangsarbeit. Transport im Viehwaggon in die Sowjetunion, vorläufige Endstation in einem Lager in „Mordwinien“, südöstlich von Moskau, Schwerstarbeit auf einer Kolchose. Trennung von der Mutter, die in ein anderes Lager kam. Weitertransport nach Archanchelsk mit dem berüchtigten Gefangenenlager Molotowsk, Treibholzfischen im Weißen Meer, dann Schleppen von Baumaterial, schweren Marmorstufen. Wieder Verlegung, diesmal in ein Lager an der Bahnstrecke Moskau–Workuta mitten in der Taiga mit ihren langen harten Wintern, in denen Grubenholz gefällt und transportiert werden mußte. Endlich dann nach fünf Jahren Zwangsarbeit im Juli 1952 die Entlassung – nicht in die deutsche Heimat, sondern in die Sowjetunion, in die „Freie Verbannung“ mit zugewiesenem Arbeitsplatz in der tiefsten Taiga. Keine Papiere, ein Leben ohne Legitimation an einer unsichtbaren langen Leine, die jederzeit fest angezogen werden konnte. Erträglich durch den Zusammenhalt mit den anderen Deutschen in diesem zugewiesenen Lebensraum ohne Stacheldraht und sogar ein bißchen Glück durch die Verbindung mit einem Schicksalsgefährten, die zu einem der sibirischen Natur und den Bewachern abgetrotzten Eigenleben führt. Eine Baracke, ein Kartoffelacker, eine Ziege und ein paar Hühner – das genügt, um sich als Familie zu fühlen, vor allem als im Oktober 1953 ein Sohn geboren wird. Aber immer das Warten: Wann kommen wir wirklich frei, wann dürfen wir nach Deutschland? Bis endlich die kleine Familie am Karfreitag 1955 auf den Hamburger Hauptbahnhof steht und das ersehnte Leben in Freiheit beginnen kann.

Buntkirchen hat ihre Erinnerungen an „das gestohlene Jahrzehnt“ für ihre Kinder und deren Kinder aufgeschrieben „damit es nicht vergessen wird, was Menschen alles ertragen können. Daß sie nicht den Mut verlieren, noch einmal neu anzufangen, sich immer wieder einen neuen Garten anzulegen, ein Apfelbäumchen zu pflanzen – mit Geduld, Gottvertrauen und harter Arbeit!“ Aber nun ist es weit mehr geworden als eine Aufzeichnung für die Familie, es mutierte zu einem 300 Seiten starken Buch, das mehr als das „gestohlene Jahrzehnt“ eines Einzelschicksals dokumentiert, sondern das einer ganzen Generation.           Ruth Geede

Ruth Buntkirchen: „Das gestohlene Jahrzehnt – Erinnerungen 1945−1955 – Zwischen Königsberg und Archangelsk“, Hamburg, gebunden, 290 Seiten, 20 Euro


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