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22.08.09 / Ein Stück Weltliteratur / Entwicklungsroman aus den USA

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 34-09 vom 22. August 2009

Ein Stück Weltliteratur
Entwicklungsroman aus den USA

In seinem Klassiker „Schau heimwärts, Engel“ von 1929 verrät der deutschstämmige US-Autor Thomas Wolfe im Vorwort an den Leser sein Geheimrezept für einen guten Roman: „Wenn der Autor den Lehm des Lebens genommen hat, um daraus sein Buch zu formen, hat er damit nur das genommen, was jeder nehmen muss und niemand beiseite lassen kann.“ Die Biographie des gerade einmal 29-jährigen Amerikaners bot Rohmaterial für mehrere tausend Manuskriptseiten. Der Harvard-Abgänger lehrte damals bereits amerikanische Literatur in New York, hatte sich als Dramaturg und Schauspieler erprobt und mehrere Europareisen unternommen. Jetzt, 80 Jahre nach Erscheinen der amerikanischen Erstausgabe hat der Manesse-Verlag das Erstlingswerk Wolfes wieder aus der Versenkung geholt. Sinclair Lewis nannte das Familienepos „eine kolossale Schöpfung voller Lebenslust“, Hermann Hesse „die stärkste Dichtung aus dem heutigen Amerika, die ich kenne“. Die Neuauflage überzeugt vor allem durch die zeitgemäße, bildhafte und vielseitige Übersetzung Irma Wehrlis, die auch einige in der Ursprungsfassung als „anstößig“ zensierte Stellen enthält. Zudem erhellen ein fast 50-seitiger Kommentar, ein Nachwort und eine editorische Notiz die Lektüre.

Eugene Gant, das unverkennbare Alter Ego des Autors, schildert in dem Entwicklungsroman mit dem Untertitel „Eine Geschichte vom begrabenen Leben“ seine Kindheit und Jugend um die Jahrhundertwende. Vater Oliver zieht damals aus dem Norden in die Südstaaten, in eine Kleinstadt North Carolinas. Er arbeitet als Steinmetz und rezitiert Shake-

speare-Verse im Vollrausch. Die tyrannische Mutter Eliza leitet eine Pension. Aus der Verbindung dieser beiden Extremcharaktere gehen acht Kinder hervor, von denen jedoch zwei im Säuglingsalter sterben. Eugene, der Jüngste, wird 1900 geboren. Während seine älteren Geschwister an den Alkoholexzessen des Vaters und den ständigen Auseinandersetzungen der Eltern zerbrechen, gelingt es ihm als einzigen, der Familie und häuslichen Enge zu entfliehen. Durch Lektüre und Collegeabschluss erhebt sich Eugene über die kleinstädtische Mittelmäßigkeit und wird schließlich in Harvard angenommen. Wie nebenbei flechtet Wolfe die zeitgeschichtlichen Ereignisse von der Weltausstellung St. Louis 1905 über den Ersten Weltkrieg bis hin zur Grippe-Pandemie ab 1918 in seine Erzählung ein.

„Schau heimwärts, Engel“ ist ein stilistisch anspruchsvolles Werk, das unvermittelt zwischen inneren Monologen, Pathos, Satire, grotes-ken Überspitzungen und derber Gossensprache wechselt und aus einem reichen Schatz abendländischer Literatur und Bibelzitaten schöpft. Für den heutigen Leser liegt ein Stück Weltliteratur neu aufbereitet vor, das zugleich Zeitdokument, Porträt einer Südstaatenfamilie zu Anfang des 20. Jahrhundert analog zu Manns Buddenbrooks, Seelenanalyse eines empfindsam-melancholischen, wilden Helden und Meisterwerk der Fabulierlust ist. Leider konnte Wolfe das auf insgesamt fünf Fortsetzungen angelegte Werk nicht zu Ende führen. Er starb 38-jährig an Tuberkulose. Sophia E. Gerber

Thomas Wolfe: „Schau heimwärts, Engel – Eine Geschichte vom begrabenen Leben“, Manesse Verlag, Zürich 2009, geb., 782 Seiten, 20,90 Euro


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