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05.09.09 / »Es ist wie eine innere Explosion« / Kaufsucht befällt immer mehr Menschen in den westlichen Industrienationen – Eine Betroffene erzählt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 36-09 vom 05. September 2009

»Es ist wie eine innere Explosion«
Kaufsucht befällt immer mehr Menschen in den westlichen Industrienationen – Eine Betroffene erzählt

Kaum einen Satz hat man von Politikern in der jüngsten Wirtschaftskrise öfter gehört, als den, dass der Konsum angekurbelt werden müsse. Salopp ausgedrückt heißt das: In die Geschäfte, Leute, und kaufen, kaufen, kaufen. Einer bestimmten Gruppe von Menschen muss man  das nicht zweimal sagen. Sie gehören zu den rund 500000 Deutschen, die unter Kaufsucht leiden. Sie kaufen meist das, was sie gar nicht brauchen oder sich nicht leisten können: das junge Mädchen die Anti-Faltencreme für reife Haut, der junge Mann gleich 15 CD-Player oder die Hartz-IV-Empfängerin die edle Seidenrobe.

Für einen kurzen Glücksmoment riskieren sie ihre wirtschaftliche Existenz, denn schließlich müssen die Rechnungen irgendwann bezahlt werden. Doch sobald sie das Objekt ihrer Be-gierde ihr Eigen nennen dürfen, ist der Spaß schnell vorbei. Viele verschenken die eben noch so begehrlich wirkenden Gegenstände, stellen sie im Internet zum Verkauf oder stapeln sie einfach zu Hause.

Sieglinde Zimmer-Fiene aus der Nähe von Hannover ist eine dieser Unglücklichen. Seit 20 Jahren ist sie kaufsüchtig, doch hat sie einen Weg gefunden, die Sucht in den Griff zu bekommen. Sie hat eine Selbsthilfegruppe gegründet und bietet Leidensgenossen Unterstützung an.

„Bei mir melden sich viele 35- oder 40-Jährige, die das Thema Kaufsucht schon lange mit sich rumtragen“, sagte sie in einem Interview mit der Techniker Krankenkasse. „Es ist dann meistens  eine Bombe geplatzt, indem die Familie Mahnungen oder Kontoauszüge gefunden hat. Oftmals steht auch der Gerichtsvollzieher vor der Tür.“ Um den Betroffenen zu helfen, bietet sie ein regelmäßiges Treffen einmal wöchentlich an. „Wir arbeiten daran, dass die Betroffenen wieder ein Selbstwertgefühl bekommen und die Krankheit Kaufsucht für sich anerkennen.“

Wie bei jeder Sucht ist es wichtig, dass die Betroffenen ihr Problem selbst erkennen. Eine klare Definition als Krankheit gibt es von medizinischer Seite noch nicht. Erst seit zehn Jahren beschäftigen sich Wissenschaftler mit dem Phänomen, das in den westlichen Industrienationen immer mehr zunimmt. Nach Schätzungen von Experten leiden in den USA etwa 15 Millionen Menschen unter Kaufzwang. Doch diese Sucht ist keine neue Krankheit. Bereits 1915 dokumentierte der in Neustrelitz geborene Psychiater Emil Kraepelin (1856–1925) diese gesundheitliche Störung. Bis heute jedoch ist dagegen „kein Kraut gewachsen“, sieht man einmal von einer Pille ab, die zur Behandlung von Depressionen und Panikattacken zugelassen ist und die den Serotoninspiegel im Gehirn beeinflusst. Fachleute erwarten auch bei der Behandlung von Kaufsucht gewisse Erfolge. Andere Experten setzen hingegen eher auf einen Gesamt-Behandlungsplan wie bei anderen seelischen Erkrankungen auch. „Vor allem gilt es, sich selbstkritisch zu fragen, ob man zu den Kaufrausch-Betroffenen gehört“, rät Prof. Dr. med. Volker Faust, Facharzt für Neurologie in Ravensburg. „In leichteren Fällen braucht es erst einmal keine andere Maßnahme als die konsequente Eigenkontrolle. In mittelschweren sollte man sich überlegen, ob man einen Arzt und später gegebenenfalls Psychotherapeuten hinzuzieht. Denn schwere Fälle haben auch ein schweres Los. Ihre Kauf-Orgien sind kein genüssliches Shopping mehr.“

Davon kann Sieglinde Zimmer-Fiene auf ihrer Internetseite ein Lied singen. „Die Freude des Kaufens ist ja nur einen Moment und zwar der Moment, wo man das Teil oder die Teile fixiert hat und bekommt. Dieser Moment ist so stark, dass man das Gefühl hat, es zerreißt einen in sämtliche Teile. Es ist wie eine innere Explosion. Das Herz schlägt bis zum Kopf, man kommt ins Schwitzen, der Körper schmerzt, es ist alles wie benebelt, wie in Trance. Ein Wechselspiel der Gefühle. Der Verstand setzt förmlich aus. Man hat keinen Verbündeten mehr außer die Verkäufer. Dann die Angst, es bekommt jemand mit, man wird vielleicht beobachtet, ein anderer kann in einem die Gedanken lesen. Die Angst vor der Angst. Die Schweißperlen rollen, das Ertappt-Werden, wieder zu viel zu kaufen. Wenn man dann die ersehnten und eigentlich nicht gewollten Sachen hat, geht es wieder los. Das schlechte Gewissen kommt. Wie bekomme ich es ungesehen in die Wohnung, wo verstecke ich es, vor allem wohin, dass es ja niemand findet.“   Silke Osman.

Mehr Informationen unter www.kaufsuchthilfe.de

Foto: Buntes Warensortiment angehäuft: Die „Beute“ einer Kaufsüchtigen          Bild: Internet


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