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12.09.09 / 90 Prozent waren dagegen / Jüdische Augenzeugenberichte über die »Reichskristallnacht« von 1938

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 37-09 vom 12. September 2009

90 Prozent waren dagegen
Jüdische Augenzeugenberichte über die »Reichskristallnacht« von 1938

In den Wochen nach den antisemitischen Exzessen vom Herbst 1938 sammelte das von dem emigrierten deutschen Juden Alfred Wiener gegründete Central Information Office in Amsterdam (heute Wiener Library, London) Beobachtungen von Betroffenen und anderen Zeugen. Es handelt sich um 356 Texte, die den stattlichen Band „Novemberpogrom 1938 – Die Augenzeugenberichte der Wiener Library, London“ füllen.

Auch wenn die Berichte aus allen Teilen des Dritten Reiches stammen, die Verfasser meist unbekannt sind und anonym bleiben wollten, so bildet die Sammlung doch eine Einheit.

Geschildert wird vor allem, wie die Juden wehrlos die Schändung ihrer Heiligtümer hinnehmen mussten, der Vandalismus bei der Demolierung ihrer Wohnungen wie ihrer Geschäfte, der schier unbeschreibliche Sadismus bei ihrer Festnahme und während ihres Aufenthalts in Gefängnissen und Konzentrationslagern. Doch so wird das Gesagte doppelt glaubwürdig und hinterlässst beim Leser tiefe Betroffenheit.

Die Unterwelt war gleichsam allgegenwärtig in Hitlers Machtbereich. Des öftern verriet Schnapsgeruch, wie der Enthemmung der Täter vor Ort nachgeholfen wurde. Daneben ist viel von Befehl und Gehorsam die Rede, auf Seiten der Akteure wie der Opfer. „Vereinzelt werden auch jüdische Häftlinge als Vorarbeiter, Vorgesetzte ihrer eigenen Glaubensgenossen verwandt. Dies sind meistens Subjekte, die sich durch minderwertige Charakteranlagen hierfür eignen.“ Jene Aussagen sind von besonderem Gewicht, die das Verhalten der gewöhnlichen Mitbürger schildern.

Die Beobachtungen stimmen, wie nicht anders zu erwarten, nicht überein. Aber das Verhältnis der erfreulichen zu den unerfreulichen beträgt etwa zehn zu eins. Unerfreulich ist es, wenn es heißt: „Die sogenannten gebildeten Stände, die sich noch ein Gefühl für Humanität und Anstand bewahrt haben, … stehen … abseits. Die große Masse hingegen steht den Ereignissen gleichgültig oder sogar mit einer gewissen Sympathie für die Regierung gegenüber.“ (Nur wenige Seiten weiter wird vom selben Autor eingeräumt: „Arische Freunde zeigten sich sehr hilfreich.“)

Das Gros der Zeugen schreibt: „Das Publikum verhielt sich in den meisten Fällen ... still, das heißt ablehnend. Zu Missfallenskundgebungen kam es vereinzelt. Sie wurden unterbunden, da man solche Personen verhaftete.“

Eine ganz außergewöhnliche Laudatio wird den Münchnern zuteil. Mehr als eine Seite füllen rühmliche Erfahrungen. Die ersten und die letzten Sätze sollen hier genügen: „Die Stimmung unter der christlichen Bevölkerung in München ist durchaus gegen die Aktion. Von allen Seiten wurde mir das lebhafteste Beileid und Mitgefühl entgegengebracht … Einer der ersten Bankiers von München (Arier) erklärte mir weinend: ‚Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein. Erklären Sie dem Ausland, dass 90 Prozent der deutschen Bevölkerung gegen diese Missetaten ist. Es ist nur eine kleine Clique, die dieses Unglück angestiftet hat.‘“

Selbst die Gehilfen der Hauptverbrecher empfanden Gewissensbisse: „Als sie nach Hause zurückkehrten, stand vor jeder Wohnung ein SA-Mann Wache … Meine Schwester hatte großes Glück, einen anständigen Menschen vor ihrer Tür zu haben, dem alles so zusetzte, dass er weinte.“

Und: Ein „Fräulein … erklärte, dass ein SA-Mann, der gezwungen wurde, die Aktion mitzumachen, nach der Aktion erklärte, es sei so schrecklich gewesen, … dass er sich, wenn er nicht Frau und Kinder hätte, das Leben nehmen würde.“ Konrad Löw

Ben Barkow, Raphael Gross und Michael Lenarz (Hrsg.): „Novemberpogrom 1938 – Die Augenzeugenberichte der Wiener Library, London“, Frankfurt am Main, gebunden, 934 Seiten, 39,90 Euro.


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