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19.09.09 / Heldin oder Katastrophe? / Leichenschmaus offenbart unterschiedliche Eindrücke von der Großmutter

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38-09 vom 19. September 2009

Heldin oder Katastrophe?
Leichenschmaus offenbart unterschiedliche Eindrücke von der Großmutter

„Also ich finde, zu einem anständigen Leichenschmaus gehört ein Menü und nicht diese A-la-carte-Esserei. Bei uns daheim war es immer die gute Rindssuppe mit Frittaten und kleinen Leberknödeln und eine Semmel dazu, die der Bäcker nur für Begräbnisse gebacken hat, dreimal so groß wie eine normale.“

Die österreichische Autorin Renate Welsh startet ihren Roman zunächst aus dem Blickwinkel einer Köchin, die in der Küche eines Gasthauses einen Leichenschmaus bereitet. Über die Hauptfigur des Romans, die 93-jährige Edith Karmann, die soeben beerdigt wurde, kann die Köchin nichts berichten. Um so mehr aber ihre Angehörigen, die zusammengekommen sind, um Edith zu Grabe zu tragen.

Renate Welsh, als Kinderbuchautorin („Das Vamperl“ und „Liebe Schwester“) vielfach ausgezeichnet, entwirft mit ihrem Roman „Großmutters Schuhe“ ein facettenreiches Familienporträt.

Vier Generationen haben sich um die Trauertafel versammelt und jeder erinnert sich aus seiner eigenen Perspektive kurz an das Familienoberhaupt. David (20), ihr Urenkel und erklärter Liebling, deutet an, was sich im Verlauf des Romans durch die unterschiedlichen Charakterisierungen der Angehörigen bestätigt, dass seine „Ditta-Oma“ eine Frau mit vielen Gesichtern war: „Nimmt man Abschied von einem Menschen oder einem Bild? Meine Ditta haben die anderen hier alle nicht gekannt.“

Zu ihren Töchtern Stefanie (62) und Frederike (69) hatte Edith kein besonders gutes Verhältnis. Beide Töchter hatten das Gefühl, dass ihre charismatische, schöne, kluge und lebensfrohe Mutter von ihnenen enttäuscht gewesen war. Ausgesprochen hat sie es nie, aber Stefanie bringt es auf den Punkt: „Ja, Edith, es muss einmal gesagt werden, nach allen Lobeshymnen: Als Mutter warst Du eine Katastrophe!“ Oder Frederike: „Du warst mir oft im Weg, Mama. Egal in welche Richtung ich ging, irgendwann standest du da und versperrtest mir den Weg.“

Für Marie, die 81-jährige Haushälterin, wird der Tod ihrer Arbeitgeberin und Freundin Edith ein existenzielles Problem. Seit ihrer Jugend hat sie für einen Hungerlohn bei der Familie gearbeitet und wurde erst in den letzten Jahren offiziell angemeldet, so dass sie nicht mal eine Mindestrente erhalten wird.

Ihr Enkel Thomas wiederum beschreibt sie als Heldin: „Wer war es nur, der mir erzählt hat, dass sie zu Kriegsende einen Deserteur im Haus versteckt hat, als Frau verkleidet? Und dass sie einer jüdischen Schulkameradin zwei Jahre lang täglich Essen gebracht hat, die dann aber ein paar Tage vor Kriegsende an Typhus starb?“

Welsh, die auch als Übersetzerin tätig war, macht deutlich, dass die Meinungen über einen Menschen immer subjektiv sind. Zwischendurch werden Mahlzeiten und Getränke vom Küchenpersonal serviert, das von außen selbst einen Blick auf die ungewöhnliche Gesellschaft richtet. Somit bleibt es dem Leser überlassen, sich ein Urteil zu bilden. 

Nur David und Patrizia, den Urenkeln, passen Großmutters Schuhe: Ist es, weil ihr Einfluss über die Generationen nachgelassen hat oder weil ihre starke Persönlichkeit bei den Urenkeln wieder durchschlägt?

Der Roman endet überraschend mit einem großen Knall bei der Verkündung des Testaments.

„Großmutters Schuhe“ ist ein realistisches und unterhaltsames Porträt einer Großfamilie, in dem die Beziehungen einer Familie untereinander schonungslos offen gelegt werden.

Für diejenigen, die befürchten, durch die verwirrenden Verwandtschaftsverhältnisse nicht mehr durchzusteigen: Am Anfang des Buches gibt es einen übersichtlichen Stammbaum, den man zwischendurch mal schnell beim Lesen konsultieren kann.   Vittoria Finzi

Renate Welsh: „Großmutters Schuhe“, dtv, München 2008, kartoniert, 196 Seiten, 12,90 Euro


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