29.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
03.10.09 / Die erste »Wende« / Erstmals seit der Weimarer Zeit kann die SPD mit Brandt wieder den Kanzler stellen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-09 vom 03. Oktober 2009

Die erste »Wende«
Erstmals seit der Weimarer Zeit kann die SPD mit Brandt wieder den Kanzler stellen

Die Wahl zum 6. Deutschen Bundestag am 28. September 1969 brachte die Bundesrepublik Deutschland auf einen neuen Kurs. Erstmals in ihrer Geschichte stellte die CDU/CSU nicht mehr den Bundeskanzler.

Zwar ging die Union, der in Umfragen eine absolute Mehrheit vorausgesagt worden war, mit 46,1 Prozent der Stimmen und 242 Parlamentssitzen wieder als stärkste Kraft aus dem Urnengang hervor, doch konnte die SPD mit 42,7 Prozent erstmals die 40-Prozent-Marke überschreiten. Die FDP dagegen musste mit nur noch 5,8 Prozent der Stimmen herbe Verluste hinnehmen. Der Wahl vorausgegangen waren der Bruch der Koalition aus CDU/CSU und FDP, der Rück­tritt Ludwig Erhards als Bundeskanzler im Jahre 1966 und die Bildung einer Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD, die im Laufe der Zeit immer brüchiger geworden war.

Nach der Wahl reklamierte der Fraktionsvorsitzende der Union, Rainer Barzel, den Führungsanspruch für seine Partei, doch auch die SPD hoffte auf eine Regierungsbeteiligung. Tatsächlich hatte jedoch keine der drei im Bundestag vertretenen Parteien eine entscheidende Mehrheit erringen können. Die NPD fiel als Mehrheitsbeschaffer aus, da sie nach einer Serie von Wahlerfolgen wider Erwarten knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert war. Zünglein an der Waage wurde Walter Scheel, der Erich Mende als FDP-Parteivorsitzender abgelöst, die Partei reformiert und die Wende von der national- zur linksliberalen Orientierung eingeleitet hatte. Bereits drei Tage vor der Wahl hatte er signalisiert, zu einer Koalition mit der SPD bereit zu sein.

Nach der Bekanntgabe der ersten zuverlässigen Hochrechnungen trat der SPD-Parteivorsitzende und Kanzlerkandidat Willy Brandt vor die Presse und erklärte, die SPD sei „die größte und stärkste Partei“ und er habe die FDP wissen lassen, dass er zu Verhandlungen über eine Regierungsbildung bereit sei. Noch in der Nacht begannen die Koalitionsgespräche. Obwohl das Wählervotum ein anderes Ergebnis nahelegte und die Union die stärkste Fraktion im Bundestag blieb, musste sie nach 20 Jahren die Macht abgeben und in die Opposition gehen.

Am 21. Oktober wählte der Bundestag Willy Brandt mit den Stimmen von SPD und FDP zum Bundeskanzler. Damit stand 39 Jahre nach dem Kabinett Hermann Müller wieder ein Sozialdemokrat an der Spitze einer deutschen Regierung. Seinem Kabinett gehörten elf SPD-Minister, drei von der FDP und ein Parteiloser an. Walter Scheel wurde Vizekanzler und Außenminister.

Die sozialliberale Koalition läutete einen innen- und außenpolitischen Politikwechsel ein, der tiefe Einschnitte brachte. Unter dem Motto „Mehr Demokratie wagen“ kündigte Brandt in seiner Regierungserklärung mehr Transparenz und Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger an. In der Deutschland- und Ostpolitik verfolgte er einen umstrittenen „Wandel durch Annäherung“, um „über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen“. Diese Politik führte zur weitestgehenden Erfüllung der Forderungen des Ostblocks mit der Konsequenz der Anerkennung der DDR, dem Viermächteabkommen über Berlin und der (wenn auch nicht völkerrechtlich entgültigen) Anerkennung der Oder-Neiße-Linie in den Verträgen von Moskau und Warschau. Nichts illustriert diesen außenpolitischen Kurswechsel deutlicher als der berühmt-berüchtigte Kniefall des Bundeskanzlers vor einem Ehrenmahl in der polnischen Hauptstadt.

Nach der Bundestagswahl kam es in mehreren Ländern ebenfalls zu sozialliberalen Koalitionen. Die FDP verlor hier dennoch deutlich an Boden und wurde durch ihren Seitenwechsel in heftige Flügelkämpfe gestürzt. Auch die NPD litt unter innerparteilichen Kontroversen und konnte nicht mehr an frühere Wahlerfolge anknüpfen, bis sie schließlich in die Bedeutungslosigkeit abrutschte. Willy Brandt musste 1974 nach der Guillaume-Affäre zurücktreten. Sein Nachfolger Helmut Schmidt setzte dessen Entspannungspolitik fort, zeigte in der Rüstungsfrage jedoch Härte. Nachdem die FDP erneut umgefallen war, beendete 1982 das erste erfogreiche konstruktive Misstrauensvotum in der Geschichte der Bundesrepublik die SPD-Herrschaft.           Jan Heitmann

Foto: Die beiden Kanzlerkandidaten der 69er Wahl: Willy Brandt und Kurt Kiesinger


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren