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03.10.09 / Die ostpreußische Familie extra / Leser helfen Lesern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-09 vom 03. Oktober 2009

Die ostpreußische Familie extra
Leser helfen Lesern
von Ruth Geede

Lewe Landslied,

liebe Familienfreunde,

es ist ein Privileg unserer Kolumne – für das ich sehr dankbar bin – dass sie Einzelschicksale aufzeigen und nachfragen kann, so dass sie an Tiefe und Transparenz gewinnen können. Zwar müssen auch nüchterne Daten angegeben werden, das ist nun einmal unumgänglich, aber wir können darüber hinaus ein Lebensbild gestalten, das den betreffenden Menschen zeigt mit seinen Empfindlichkeiten, mit den Eindrücken und Narben, die das Erlebte in Körper und Seele hinterlassen haben. Manche hatten noch nie Gehör für das bislang Ungesagte gefunden, hatten vergeblich nach einer Plattform gesucht, wo sie endlich das Unverarbeitete ausbreiten konnten – und deshalb lesen wir immer in den Zuschriften den Satz: „Es ist gut, dass es Sie gibt!“

Heute will ich auf ein Vertriebenenschicksal eingehen, das diesen breit gespannten Rahmen noch sprengt. Denn die Königsbergerin Ruth Buntkirchen hat sich selber eine Plattform für das Erlebte und Erlittene geschaffen, indem sie ein Buch geschrieben und im Eigenverlag herausgegeben hat. Es trägt den Titel „Das gestohlene Jahrzehnt“, und wir haben es ausführlich besprochen. Mich hat ihre Schilderung sehr berührt, vor allem, weil darin ein Kapitel Zwangsdeportation dokumentiert wird, das bei uns bisher noch kaum behandelt wurde: das der „Freien Verbannung“. Ruth Buntkirchen gehört zu den deutschen Frauen und Männern, die nach langjähriger Gefangenschaft in sowjetischen Arbeitslagern nicht nach Deutschland heimkehren durften, sondern zu einem Leben ohne Stacheldraht in der sibirischen Taiga verbannt wurden. Insgesamt waren da schon acht Jahre nach Kriegsende vergangen, von denen drei unter furchtbaren Bedingungen in ihrer ostpreußischen Heimat verbracht wurden, denen – aufgrund vier „gestohlener“ Rote Beten – eine fünfjährige Verbannung in sibirischen Gefangenenlagern folgte. Die Strafe war vollzogen, aber die erwartete Heimkehr gab es nicht. Warum? Keine Antwort – nur die Order: Ab zur Arbeit in der Taiga.

Ruth Buntkirchen beschreibt diese unbegreifliche Lage so:

„Von hier fort durfte ich nicht. Auf mein Begehren hieß es, dass alle Deutschen, die jetzt aus dem Durchgangslager Woschael entlassen wurden, sich in Josser, einer Bahnstation weiter nördlich, zu melden hätten. Von da aus würde weiter verfügt. Das war, wie die Russen es nennen, die ,Freie Verbannung‘. Man bekommt seinen künftigen Arbeitsplatz zugewiesen, hat keine Papiere, darf sich nur im Umkreis von ein paar Kilometern frei bewegen und steht vollständig unter Aufsicht, nur dass kein Wachmann hinter einem herläuft. Als Verschärfung aber kam noch hinzu, dass sie uns Deutsche auch noch der deutschen Staatsangehörigkeit beraubt hatten. Wir waren angewiesen bei Nachfragen zu antworten: Staatenlos! Das war die persönliche Situation an diesem, mit so großer Sehnsucht erwarteten 25. Juni 1952. Fünf Jahre nachdem Stalins Schergen uns einverleibt hatten. Ich wurde vor das Lagertor gebracht, hatte eine Fahrkarte nach Josser in der Hand und einige Rubel in der Tasche. Es ist beängstigend, so allein und frei durch den Ort zu gehen, niemand dabei zu haben, der mich beobachtet, der mir zuruft, wohin und wie ich zu gehen habe. Ich habe Angst vor den Menschen, denen ich begegne, und dann muss ich auch noch mit dem Zug fahren und mich durchfragen. Diese ersten Schritte in die ,Freiheit‘ waren alles andere als unbeschwert. Fünf Jahre Unselbständigkeit und Abgeschlossenheit hatten Spuren hinterlassen.“

In Josser, etwa in der Mitte der Bahnstrecke Moskau–Workuta, begann für die 27-Jährige ein neuer Lebensabschnitt in Freiheit, oder was die Russen darunter verstanden. „Wir liefen bildlich gesehen an der langen Leine, die jederzeit hart angezogen werden konnte. So war es uns, die wir ohne Legitimationspapiere waren, untersagt, uns mehr als zehn Kilometer von unserem Wohnort zu entfernen. In Wirklichkeit wurden wir überwacht wie ehedem. Wir bekamen unsere Arbeit zugewiesen, durften unser Geld selbst verdienen und wohnten in Gemeinschaftswohnungen.“ In einer solchen lebte auch Ruth Schwarz zusammen mit den anderen deutschen Frauen und Männern, die zur Arbeit in einem Dorf abkommandiert waren. So ergaben sich bald Beziehungen, die zu engen Verbindungen führten – auch zwischen Ruth und einem etwas älteren, tüchtigen Mann, der als Schmied und Stellmacher auf dem „Conpark“, einer Kolchose mit 600 Pferden, arbeitete. Da Gustav W. dort in einer eigenen Stube wohnte, beschloss die junge Frau, zu ihm zu ziehen und „in guten wie in schlechten Tagen mit ihm zusammenzubleiben. Zuerst ging es uns ziemlich mies, wir waren fast ohne Geld und Lebensmittel, dadurch wurde fast jeder neue Tag zum Abenteuer. Wir taten unsere wenigen Sachen zusammen und siehe da: Es kam ein winziger Haushalt zusammen. Ich brachte zwei kleine Kochtöpfe mit, mein Essgeschirr, zwei schmale Baumwolllaken, Gustavs Aussteuer war ebenso bescheiden, aber fürs Erste langte das. Wir hatten eine eigene warme Stube, die wir mit niemand teilen mussten, was wollten wir mehr?“

Sie wohnten in einem Block­haus in einem Dorf, das keinen Namen, nur eine Nummer hatte, denn es war aus einem Straflager entstanden, als die Bahnstrecke Moskau–Workuta gebaut wurde. Die erste Anschaffung bestand aus einer Fuhre Brennholz für zehn Rubel. Da Ruth nun auf dem Hof wohnte, bekam sie ebenfalls Arbeit mit Pferden zugewiesen. Die Wintertage in der Taiga sind lang, dunkel und bitterkalt. Um 7 Uhr wurden die Schlitten geholt, mit den lebenswichtigen Dingen für das Holzfällerlager beladen und die Pferde angespannt. Gegen Mittag waren die Fuhrleute am Ziel, nach einer Stunde ging es zurück. Abends um 7 Uhr war man wieder im Dorf, zwölf Stunden Arbeit lagen hinter den Frauen und Männern. Gegessen wurde, was man im Magazin, dem Dorfladen, erstehen konnte. Das waren Zucker, Reis, Nudeln, Grütze, Haferflocken, Grieß, Öl und Margarine. Aber auch diese Grundnahrungsmittel waren nicht immer vorhanden, dann gab es nur Brot und billige Bonbons. Kartoffeln, Gemüse, Milch und sogar Butter und Fleisch gab es nicht zu kaufen. An milden Wintertagen konnte man von einem Dorfbewohner, der Kartoffeln geerntet hatte, einen Eimer voll holen. Das war dann schon ein richtiger Schatz. Aber Ruth Buntkirchen schreibt: „Wir waren glücklich miteinander, ich fühlte mich bei Gutav geborgen und gut aufgehoben. Er war fürsorglich um mich bemüht. Wir waren jung, wir waren zu zweit, wir konnten zupacken. Wir lebten, und wir hatten uns ein Ziel gestellt. Soviel Zuversicht und Optimismus haben wir später nicht mehr entwickeln können.“ Nachdem sich Ruth und Gustav zusammengetan hatten, galten sie im Dorf als „verheiratet“.

Und so überraschte es niemanden, als sich im Februar 1953 Nachwuchs ankündigte. „Welch eine Freude! Welch ein Glück! Aus heutiger Sicht war es wohl eine Herausforderung an das Schicksal. Wir waren aber voller Zuversicht, obwohl das ganze Umfeld mehr als bescheiden war und eigentlich kein Anlass zu solchem Optimismus bestand. Wir freuten uns, obgleich wir doch voller Sorge hätten sein müssen. Nichts von alledem. Das war auch keine Verantwortungslosigkeit dem neuen kleinen Wesen gegenüber. Wir beide, aber besonders Gustav, waren beflügelt von dieser neuen Situation. Unsere schon feststehenden Pläne wurden erweitert, und als die Schneeschmelze begann, fingen wir an, unsere Planungen in die Tat umzusetzen.“

Die Zeit erwies sich als günstig, Josef Stalin war gestorben, die schwierige Lebensmittellage entspannte sich, auch andere Sachen gab es plötzlich zu kaufen. So erstand Ruth in Josser eine Wanduhr, und sie hatten endlich einmal die – fast – genaue Zeitangabe. Und es waren keine Luftschlösser, die sie bauten, sondern handfeste wie das Häuschen mit Herz, ein ungeheurer Fortschritt auf dem Weg in ein ziviles Leben. Der kurze Sommer musste genutzt werden, so wurde eine in der Taiga übliche „Sommerküche“ gebaut, denn in der warmen Jahreszeit wurde nur im Freien gekocht. Ein richtiger Herd mit einer eisernen Kochplatte – welch ein Fortschritt gegenüber dem Stubenofen, der auch als Kochstelle dienen musste. Denn der brachte beim Kochen im Sommer eine andere Plage buchstäblich ans Licht: Scharen von Wanzen quollen aus den Ritzen. Angeblich sollte es kein einziges wanzenfreies Haus in der Region geben. Die Russen behaupteten, die Wanzen säßen schon im lebenden Holz. Also war Generalüberholung angesagt! „Zweimal im Jahr wurde die ganze Stube ausgeräumt und die auf den Vorplatz gestellten, auseinander genommenen Möbel mit kochendem Wasser übergossen. Aber auch in Wänden und Decken nisteten die Wanzen. Also wurde der Putz an den losen Stellen abgerissen, die Flächen mit kochendem Wasser begossen, ausgebessert und zum Schluss Wände, Decke und Ofen mit abgelöschtem Kalk getüncht. Danach konnten wir uns in unserm blitzblanken Stübchen wieder wohl fühlen.“

Aber auch an das leibliche Wohl musste gedacht werden, und das hieß: Kartoffeln setzen! Das hatte sehr früh zu geschehen, denn bereits Ende August musste die Ernte abgeschlossen sein. Zuerst musste ein Stück Land in Nähe der Hütte gerodet werden, was für den fleißigen Gustav kein Problem war. Die Erde wurde mit Pferdemist gedüngt – den gab es ja reichlich –, die Kartoffeln gesetzt, und schon acht, neun Wochen später konnten die ersten Kartoffeln aus eigener Ernte gegessen werden. Phänomenal! So empfanden das die Zwangssiedler. Ein ruhiger, wenn auch arbeitsreicher Sommer stand bevor. Aber dann kann es ganz anders:

„Da erschienen im Dorf offiziell aussehende Herren, die für eine bevorstehende Exkursion Männer und Frauen brauchten, die mit ihnen in die riesigen unerforschten Wälder der Komi zogen. Sie sollten den Landvermessern, denn um solche handelte es sich, als Träger und Helfer dienen. Das war eine böse Überraschung, denn Gustav musste auch mit, und wenn wir nicht das Baby erwartet hätten, wäre ich auch dabei gewesen. Alles ging sehr schnell, und am Tag darauf war ich allein. Mein ganzes Sinnen und Trachten drehte sich jetzt um das Kind.“ Das war schon einmal gefährdet gewesen, als Anfang Mai die junge Frau eine schwere Fuhre Holz befördern musste. Ihr Wagen war mit einem starken Pferd bespannt worden, kein Panjepferdchen wie üblich, und – wie sich später herausstellte – viel zu groß für den Kastenwagen mit den kurzen Deichseln, an denen es sich auf dem abschüssigen Rückweg die Hinterläufe blutig scheuerte. „Das Pferd begann mit mir durchzugehen. Ich saß nicht mehr, sondern lag fast auf dem Rücken und schrie vor Angst. Kurz vor dem Hof versuchten einige Männer, die das Unglück kommen sahen, dem Pferd in die Zügel zu fallen. Vergebens. Es hob mich wie von Geisterhand hoch, und ich schoss wie eine Rakete über den Gaul hinaus und prallte vor ihm auf die Erde.“ Aber das Pferd stand, der Wagen war gegen einen Torpfeiler geprallt. Es dauerte eine Weile, bis Ruth begriff, was geschehen war. Sie dachte nur an das Kind, der Schock saß tief, und die Schwangere sollte die geheime Angst um das Baby bis zu dessen Geburt nicht verlieren.

Die noch einmal in ihr aufstieg, als sie am 7. Oktober auf dem Weg zum Krankenhaus in Woschael, wo die Entbindung stattfinden sollte, auf eisglatter Straße hinfiel und allein nicht mehr aufzustehen vermochte. Noch am selben Abend kam ihr Kind zur Welt, es war ein Sohn, gesund und wohlgestaltet, der den Namen Wolfgang erhielt. Aber es gab ein Problem: Die junge Mutter konnte es nicht stillen. In der Klinik wurde es Müttern an die Brust gelegt, deren Milch reichlich floss. Aber nach der Rückkehr in das Dorf begannen die Schwierigkeiten. Von der Klinik hatte die junge Mutter keine Ratschläge bekommen, die erhielt sie auch von den älteren Frauen des Dorfes nicht. Zum Glück nahm das Kind dann die Nahrung von Haferschleim und Kuhmilch an, die Ruth zusammengestellt hatte.

Sie waren nun eine glückliche Familie, die ihr Leben in der Taiga so gestaltete, als läge hier ihre Zukunft. Weiteres Land wurde urbar gemacht und bestellt, Ziegen und Hühner wurden angeschafft, Wolfgang bekam einen treuen Bewacher, einen Schäferhund. Auch die finanzielle Lage besserte sich, da Ruth als Pferdepflegerin eingestellt wurde. Dieser Sommer wurde für sie der glücklichste und schönste der letzten zehn Jahre. Es kamen noch zwei „wunderbare Ereignisse“ hinzu: Der Postverkehr mit der Heimat erfolgte regelmäßig, wenn auch zensiert, und die Briefe hielten den Wunsch nach einer endgültigen Heimkehr wach. Und dann erschienen im Frühjahr 1954 wieder einmal Herren mit dicken Aktenmappen, die alle Deutschen in die Verwaltung beorderten. Sie wurden befragt, ob sie für die Sowjetunion optieren, als Staatenlose die sowjetische Staatsangehörigkeit annehmen wollten. Da alle verneinten, konnten sie sofort einen Antrag zur Ausreise stellen. Alles amtlich und beglaubigt. „Wir waren beschwingt wie nie zuvor!“, beschreibt Ruth Buntkirchen diesen hoffnungsvollen Vorgang. Es dauerte dann doch noch einen Sommer, einen Herbst, einen frühen Winter, bis endlich im Februar die ersehnte Post aus Mos­kau kam, die ihnen die Heimreise avisierte. Und dann kam jener Augenblick, in dem für die junge Familie endlich ein Leben in Freiheit begann, als sie am Karfreitag des Jahres 1955 auf dem Hamburger Hauptbahnhof stand und „das gestohlene Jahrzehnt“ ein endgültiges Ende hatte.

Aber die Erinnerung an die Taiga bleibt, an die weiten Wälder, die sanft geschwungene Landschaft, die sich in blauer dunstiger Unendlichkeit verliert, an die kristallklaren Flüsse, an die Farbenspiele des Polarlichts in der weißen Weite, dann – so bekennt Ruth Buntkirchen – „tut mir doch das Herz weh, weil das große Heimweh uns all diese Schönheit nicht richtig genießen ließ, sondern nur ständig der Wunsch uns beherrschte – weg, weg – nach dem Land, in das wir gehören“. (Ruth Buntkirchen lebt heute in Hamburg, Telefon 040/7122316.)

Eure Ruth Geede

Foto: Taiga in Sibirien: In diese schier endlos scheinende Landschaft wurden viele Deutsche verbannt, darunter Ruth Buntkirchen.


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