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10.10.09 / Roman voller Brisanz / Vor 200 Jahren erschienen Goethes  »Wahlverwandtschaften«

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 41-09 vom 10. Oktober 2009

Roman voller Brisanz
Vor 200 Jahren erschienen Goethes  »Wahlverwandtschaften«

Am 9. Oktober 1809 war es so weit: Goethe nahm in Weimar von seinem Verleger Cotta die ersten gedruckten Exemplare seines neuen Romans in Empfang: „Die Wahlverwandtschaften“. Der Titel entsprach einem Vorgang in der Chemie: Zwei Stoffe stehen in einer Verbindung, zum Beispiel in Ammonium-Chlorid. Tritt Natronlauge hinzu, entsteht Natrium-Chlorid, und das Ammonium wird freigesetzt. Der Naturwissenschaftler und Dichter Goethe fasste das als Gleichnis auf für die Bindungen und Lösungen, die die menschliche Gesellschaft bestimmen, da, wie er sagte, „auch durch das Reich der heiteren Vernunft-Freiheit die Spuren trüber leidenschaftlicher Notwendigkeit sich unaufhaltsam hindurchziehen, die nur durch eine höhere Hand, und vielleicht auch nicht in diesem Leben völlig auszulöschen sind“.

Zum Inhalt: Der Landedelmann Eduard hat seine Jugendliebe Charlotte geheiratet. Der Hauptmann, ein Freund Eduards, und Ottilie, die Nichte Charlottes, kommen zu Besuch. Der Hauptmann und Charlotte verlieben sich ineinander, ebenso Eduard und Ottilie. Aber das erste Pärchen verzichtet, denn es respektiert das Band der Ehe. Nicht so der eigensinnige Eduard, der auf Ottilie keineswegs verzichten will. Die aber will ihm nur ihr Jawort geben, wenn Charlotte ihn freigibt. Das Ehepaar bekommt während der Romanhandlung ein Kind, das jedoch wegen einer Nachlässigkeit Ottilies ertrinkt. Daran erkennt das sensible Mädchen, dass es Eduard nicht bekommen darf. Als er ihm trotzdem weiter nachstellt, entzieht es sich, indem es sich zu Tode hungert. Eduard in seinem Kummer stirbt ebenfalls. Charlotte hat eine Kapelle restaurieren lassen, in der nun beide Liebenden nebeneinander ruhen, in der Hoffnung auf gemeinsame Auferstehung, wie der Dichter ausdrücklich an-merkt.

Diese Handlung ist mit Bedeutung und Hintersinn geradezu aufgeladen. Es stoßen zusammen die Heiligkeit der Ehe, symbolisch genommen für Ordnung und Moral in der menschlichen Gesellschaft überhaupt, und die freie Liebesleidenschaft, symbolisch für das Chaos. Eine Lösung des Konfliktes ist allenfalls durch Ausweichen in Entsagung möglich, in Askese. Das ist eine Art speziell Goethescher „Heiligkeit“, weshalb Thomas Mann den Roman nicht ohne Ironie einen „allerchristlichsten“ nannte. Der einzige Ausweg für Ottilie ist, weltlich betrachtet, der Tod. Denn die „Wahlverwandtschaft“ ist eine Naturgewalt, die mit der Wucht des unvermeidbaren Schicksals einbricht. So sagt Charlotte: „Es sind gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnäckig vornimmt. Vergebens, dass Vernunft und Tugend, Pflicht und alles Heilige sich ihm in den Weg stellen, es soll etwas geschehen, was ihm recht ist, was uns nicht recht scheint; und so greift es zuletzt durch, wir mögen uns gebärden, wie wir wollen.“

Lässt man den Gegensatz von Ehe und freier Liebe im Vordergrund, so sind die „Wahlverwandtschaften“ das Vorbild der großen Ehe-Romane des 19. Jahrhunderts: Madame Bovary, Anna Karenina, Effi Briest. Um die literarischen Finessen des Werkes zu würdigen, muss man es (wieder?) lesen, angeregt durch Thomas Manns Urteil: „...ein Wunderding an Geglücktheit und Reinheit der Komposition, an Reichtum der Beziehungen, Verknüpftheit, Geschlossenheit ...“ Für Risiken und Nebenwirkungen der Lektüre entnehme man den Tagebüchern von Franz Grillparzer: „Vor dem fünfzigsten Jahre kann man es kaum völlig würdigen, aber es gehört ebensowohl zum Fluch als zum Segen des Gereiftseins, dass man es kann.“        Bernd Rill


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