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17.10.09 / Was ist nun »erledigt«: Die Bibel oder Bultmann?

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 42-09 vom 17. Oktober 2009

Gastbeitrag
Was ist nun »erledigt«: Die Bibel oder Bultmann?
von Prof. Dr. theol. Rainer Mayer

Der Neutestamentler Rudolf Bultmann (1884–1976) gehört zu den einflussreichsten, aber auch umstrittensten evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts. Anlässlich seines 125. Geburtstag am 20. August erklärte die Referentin für theologische Grundsatzfragen der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), die Einschätzung der Theologie Bultmanns sei schon seit langem im Sinne einer positiveren Sicht revidiert worden, es habe hier einen „Bewusstseinswandel“ gegeben. Allerdings gibt es gute Gründe, an der ursprünglich sehr kritischen Einschätzung der VELKD festzuhalten.

1. Rudolf Bultmann hat die historische Kritik nicht erfunden, sondern er steht am Ende einer über 150-jährigen Geschichte historisch-kritischer Leben-Jesu-Forschung. Deren Zwischenergebnis in den 50er Jahren lautete, dass man von Jesus „eigentlich nichts wissen könne“. Angesichts dieser Situation wollte Bultmann den Glauben nicht zerstören, sondern ihn „aus dem Feuer der historischen Kritik herausretten“.

2. Das versuchte er dadurch, dass er das Feuer dieser Kritik, wie er sagte, nicht nur „ruhig brennen“ ließ, sondern es sogar anfachte. Den Glauben bezog er auf eine ganz andere Ebene, auf welcher ihm die historische Kritik nichts mehr anhaben sollte. Dazu entwarf er im Gespräch mit Martin Heidegger das Programm der existentialen Interpretation. Durch diese wurde das „Eigentliche“ von Bibel und Glaube enthistorisiert. Das vermeintliche „Wesen“ des Glaubens wurde ins subjektive Existenzverständnis verlagert.

3. Bultmann war um die Wissenschaftlichkeit der Theologie besorgt. Deshalb wollte er nicht hinter die historische Kritik zurück. Die Auseinandersetzung mit dieser hätte allerdings auf einer ganz anderen Ebene geschehen müssen. Denn die Voraussetzungen der historisch-kritischen Arbeit beruhen auf dem schon damals veralteten Wissenschaftsparadigma der klassischen (Newtonschen) Physik. Deren zentrale These lautete, Naturgesetze seien stetig und die Kausalitätsreihen seien ohne Anfang und Ende, undurchbrechbar und prinzipiell sogar berechenbar. Daher seien Wunder unmöglich und die neutestamentlichen Wundergeschichten seien von der Gemeinde erfunden worden. – Allerdings hatten Quantenphysik und Relativitätstheorie bereits ab dem frühen 20. Jahrhundert seitens der Naturwissenschaften ein völlig neues Verständnis von Begriffen wie etwa Kausalität und Gleichzeitigkeit eröffnet. Während Theologen wie Karl Heim bereits damals das Gespräch mit der modernen Physik führten und so das Verhältnis zwischen biblischem Glauben und Naturwissenschaft neu ausloteten, blieb Bultmann – und mit ihm viele andere Theologen – zeitlebens einem veralteten Wissenschaftsverständnis verhaftet. Man kann durchaus sagen, dass die Theologie Bultmann in dieser entscheidenden Prämisse bereits zur Zeit ihrer Entstehung überholt war.

4. Bultmann forderte die „Entmythologisierung“ von Glaubensaussagen. Sein Mythos-Begriff lautet: „Vom Unweltlichen weltlich, von den Göttern menschlich reden.“ Das aber ist ein Gedankenkonstrukt, welches nur einen kleinen Ausschnitt des Mythos-Phänomens erfasst und wegen seiner Engführung sowohl religionsgeschichtlich als auch literarwissenschaftlich und erst recht theologisch unzureichend ist. Schon Dietrich Bonhoeffer schrieb in seinen Gefängnisbriefen: „Man kann nicht Gott und Wunder voneinander trennen ... Bultmann ... verfällt daher in das typisch liberale Reduktionsverfahren (die ‚mythologischen‘ Elemente des Christentums werden abgezogen und das Christentum auf sein ‚Wesen‘ reduziert). Ich bin nun der Auffassung, dass die vollen Inhalte einschließlich der ‚mythologischen‘ Begriffe bestehen bleiben müssen – das Neue Testament ist nicht eine mythologische Einkleidung einer allgemeinen Wahrheit!, sondern diese ,Mythologie‘ (Auferstehung etc.) ist die Sache selbst!“

5. In der Tat hat Bultmann seine Begriffe nicht zureichend geklärt. In seinem speziellen Mythos-Begriff vermischt er Weltbild (= Vorstellungen vom äußeren Aufbau des Kosmos) und Weltanschauung (= Aussagen über den Sinn des Weltgeschehens). So behauptete er, die Geschichte von Jesu Himmelfahrt sei ein Mythos und somit „erledigt“, weil das Stockwerk-Weltbild der Antike heute nicht mehr gelte. Bei diesem, für seine Argumentation typischen Vorgehen, schließt Bultmann methodisch unkorrekt von einer Weltbildaussage auf eine Weltanschauungsaussage. Wenn man jedoch von vornherein richtig zwischen Weltbild und Weltanschauung unterscheidet, ist die Forderung nach Entmythologisierung unnötig und missverständlich. Sie läuft ins Leere.

6. Bultmanns Rettungsversuch ist auch deshalb misslungen, weil die Bibel die Offenbarung Gottes in der Geschichte bezeugt. Ein enthistorisierter Glaube und eine existentialistisch verengte Sicht auf die Bibel können aber die reale Existenz des Menschen in der Welt nicht mehr treffen. Der Glaube wird weltlos. Von diesem Ansatz her wurde die Theologenausbildung teilweise so distanziert betrieben, als handele es sich um eine Art Mathematik. Die biblischen Texte wurden gelesen „wie jede andere Literatur auch“. Die Bibel verlor ihren Rang als Maßstab für Glaube und Leben.

7. Über den persönlichen Glauben Bultmanns sollte man kein Urteil fällen. In seinem Drängen auf Entscheidung war er geradezu „pietistisch“. Doch die Konsequenzen seines Entmythologisierungsprogramms waren verheerend. Es trug zur Entfremdung zwischen wissenschaftlicher Theologie und Gemeinde bei. Im außerchristlichen Bereich wurde es als Eingeständnis der Unzuverlässigkeit der Bibel durch führende Theologen interpretiert. Der „moderne Mensch“ wurde gerade nicht erreicht, sondern im Gegenteil in seiner Bibelfremdheit und in seinem Unglauben bestätigt.

8. Bultmann gebührt ein Platz in der Theologiegeschichte, aber sein Denken ist überholt. Es ist auch unzureichend, seine Theologie nur als ergänzungsbedürftig zu bezeichnen, wie es häufig behauptet wird und im Mai dieses Jahres im Blick auf die historisch-kritische Forschung durch eine Theologenkonferenz geschah. Dieser Ansatz, so heißt es, sei „zu erweitern“ um Aspekte der politischen oder der feministischen Theologie oder durch psychologische Auslegung usw. Dadurch würde jedoch alles nur verschlimmert. Ein Haus, das auf nicht tragfähigen Fundamenten errichtet wurde, wird durch Anbauten umso schneller einstürzen.

9. Das genaue Hinsehen auf die biblischen Texte kann man allerdings von Bultmann lernen. Er lehrte, die literarischen Formen genau zu beachten. Und doch ist das heutzutage verbreitete „Drüberhinweghudeln“ auch eine Fernwirkung seiner Verfahrensweise. Da heißt es leichthin, dies oder jenes sei „nur zeitbedingt“, und schon ist damit eine biblische Aussage beiseite geschoben und für gleichgültig erklärt, „erledigt“, wie Bultmann das nannte. – In der Tat gibt es zeitbezogene Aussagen in der Bibel. Doch „zeitbezogen“ ist etwas völlig anderes als „nur zeitbedingt“ und damit „erledigt“. Es gilt, die zeitbezogenen Aussagen der Bibel daraufhin zu prüfen, was sie den Hörern damals zu sagen hatten und sie demgemäß neu in unsere Zeit und Situation hinein sprechen zu lassen.

10. Fazit: Nicht wir sind Meister der Schrift, sondern die Heilige Schrift soll unser Meister sein. Das Urvertrauen zur Bibel können wir nicht zuletzt von Martin Luther lernen, der als großer Bibeltheologe in seinen letzten Worten bezeugte: „Die Heilige Schrift meine niemand hinreichend verstanden zu haben, er habe denn hundert Jahre lang mit den Propheten die Gemeinden regiert. Du lege nicht die Hand an diese göttliche Aenaeis, sondern tief anbetend gehe ihren Fußstapfen nach.“ – Um unsere Weisheit und Wissenschaftlichkeit können wir, wenn wir uns daran halten, unbesorgt sein, „denn das Törichte Gottes ist weiser als die Menschen und das Schwache Gottes ist stärker als die Menschen“ (1. Kor. 1, 25).


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