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24.10.09 / Nichts blieb, wie es war / Vom Fall der Mauer, der Wiedervereinigung und den Jahren danach

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 43-09 vom 24. Oktober 2009

Nichts blieb, wie es war
Vom Fall der Mauer, der Wiedervereinigung und den Jahren danach

Auf dem Historikertag 1980 in Hamburg mahnte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt die versammelte Elite deutscher Historiker, nicht nur im hochwissenschaftlichen Jargon zu verharren, sondern wie in den angelsächsischen Ländern auch „populärwissenschaftlich“ zu schreiben: „Ich denke an Kissinger, ich denke an Kennan.“

Es scheint, dass diese Aufforderung allmählich auf fruchtbaren Boden fällt. Zuletzt hatten wir mit Hans-Ulrich Wehlers großer Gesellschaftsgeschichte, mit Heinrich August Winklers deutscher Geschichte, mit der Hindenburg-Biographie von Wolfram Pyta und der über Stefan George von Thomas Karlauf Werke, die weit über das Fach hinaus Interesse fanden. Dieser Tage gesellt sich ein Buch über die dramatischen Ereignisse in Deutschland 1989/90 hinzu, das diese Reihe würdig fortsetzt.

Das Buch des Mainzer Historikers Andreas Rödder (* 1967) besticht gleichermaßen durch seine minutiöse Schilderung der Ereignisse als auch durch die Fähigkeit, sie in große historische Zusammenhänge der europäischen Geschichte einzuordnen. Trotz des respektablen Anhangs von 100 Seiten Anmerkungen und Literaturangaben ist die Darstellung frei von analytischem Ballast, liest sich im Gegenteil richtig spannend, und obwohl der Leser letztlich die historischen Abläufe kennt, bangt er mitunter mit, ob das immer wieder auf der Kippe stehende, in erster Linie von Bundeskanzler Helmut Kohl vorangetriebene Einigungswerk gelingt. Erleichtert liest man den erlösenden Satz: „Doch dann nickte Gorbatschow.“

Ohne dessen Reformpolitik in der Sowjetunion wäre das Eini-gungswerk nicht zustande gekommen. Aber ebenso wenig ohne Kohls zielstrebige Politik trotz aller sich im Innern wie in der Außenpolitik auftürmenden Probleme ab Februar 1990 und wohl auch nicht ohne den unerschütterlichen Beistand, den Kohl von US-Präsident George Bush senior und Außenminister James Baker erfuhr.

Rödders Erzählung beginnt bei den Protesten in der DDR ab Sommer 1989; er schildert, wie die Macht der SED zerbröselt und zerbricht, wie die Bürgerbewegungen für wenige Wochen dominieren, wie dann der drohende Kollaps der DDR zum Handeln zwingt und die Frage der Einheit plötzlich ein Problem der europäischen Politik wird. Der Autor wechselt ständig von der innerdeutschen zur europäischen Szene und umgekehrt, zeigt, wie sich in der Außenpolitik die Fragen der Bündniszugehörigkeit, der deutsch-polnischen Grenze, der ökonomischen Hilfe für Moskau und der Europapolitik mitunter zu einem schier unentwirrbaren Knäuel verbinden, das sich letztlich – Rödder sagt „fast wie durch ein Wunder“ – doch löst.  Wie dramatisch es damals hinter den Kulissen zuging, war seinerzeit oft nur zu ahnen.

Das letzte und längste Kapitel  befasst sich mit dem vereinten Land nach 1990. Und so sehr der Autor die bis zur Einigung verfolgte Politik würdigt, so kritisch fällt diese Darstellung aus. Selbstzufrieden glaubte Bonn, die immensen Probleme in den neuen Ländern quasi nebenbei lösen zu können. Aber, so Rödder, war für den Westen die Marktwirtschaft mit Aufschwung verbunden, so im Osten mit der Erfahrung des Absturzes. Fast nichts mehr blieb, wie es war, die Umstellung betraf nicht nur Industrie und Wirtschaft, sondern letztlich jeden einzelnen. Der „Aufbau Ost“ verschlang Summen, „deren Ausmaß niemand vorhergesehen hatte“. Bonn verpasste es, die gewaltigen Aufgaben rechtzeitig als eine alle verpflichtende Gemeinschaftsaufgabe zu deklarieren. Als schließlich der Solidarzuschlag eingeführt wurde, war die Solidarität im Volk schon fast wieder verflogen. Rödders kühles Fazit: „Die Bundesrepublik erwies sich als nicht ausreichend gerüstet für die gewaltige Aufgabe.“

Und trotzdem der hoffnungsvolle Ausblick: Nach all den Katastrophen des 20. Jahrhunderts gingen die Hoffnungen der Deutschen seit dem 19. Jahrhundert, souverän, in Einheit, Freiheit und Frieden zu leben, doch noch in Erfüllung. So glücklich man darüber ist, so dankbar ist man für dieses Buch. Dirk Klose

Andreas Rödder: „Deutschland, einig Vaterland – Die Geschichte der Wiedervereinigung“, Verlag C. H. Beck, München 2009, geb., 495 Seiten, 24,90 Euro


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