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31.10.09 / Sohn des falschen Volkes / Roman über die Verschleppung Rumäniendeutscher in die Sowjetunion

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 44-09 vom 31. Oktober 2009

Sohn des falschen Volkes
Roman über die Verschleppung Rumäniendeutscher in die Sowjetunion

Am 23. Juli diesen Jahres veröffentlichte die rumäniendeutsche Schriftstellerin Herta Müller in der Wochenzeitung „Die Zeit“ den Artikel „Die Securitate ist noch im Dienst“. Darin hat sie grauenvolle Einzelheiten ihrer Verfolgungsgeschichte durch den rumänischen Geheimdienst, der auch noch nach 1989/90 unter dem neuen Namen „Rumänischer Informationsdienst“ seine Verbrechen fortsetzt, aufgezählt: So wurden die drei deutschen Minderheiten in Rumänien, die Banater und Sathmarer Schwaben sowie die Siebenbürger Sachsen, unter dem Negativbegriff „Deutsche Nationalisten und Faschisten“ erfasst; Herta Müller selbst, die in den Akten (914 Seiten) seit 8. März 1983 als „Cristina“ geführt wurde und der wegen ihres Erzählungsbandes „Niederungen“ (1982) „tendenziöse Verzerrungen der Realitäten“ vorgeworfen wurden, hat die gnadenlose Verfolgung vier Jahre hindurch erdulden müssen, mit zwei Anwerbungsversuchen und, nach der Verweigerung, mit der Drohung: „Es wird dir noch leid tun, wir ersäufen dich im Fluss.“ Und ein Jahr, nachdem sie 1987 nach West-Berlin ausgereist war, erschien ihre angeblich beste Freundin zu Besuch, die inzwischen vom Geheimdienst angeworben worden war.

Wenn man das alles weiß, was gewiss nur ein Bruchteil dessen ist, was Herta Müller erlebt und verinnerlicht hat, dann versteht man, dass sie nur ein Thema kennt: die fortwährende Entwürdigung des Menschen durch die kommunistische Diktatur, die 44 Jahre lang die Staaten Osteuropas wie ein Krebsgeschwür überzog. Mit ihrem neuen Roman „Atemschaukel“ aber greift die Literaturnobelpreisträgerin weit über ihr Geburtsjahr 1953 hinaus in eine Zeit, als das Ende des Zweiten Weltkriegs abzusehen war. Am 25. August 1944 hatte Rumänien die Fronten gewechselt und dem Deutschen Reich den Krieg erklärt, am 31. August die „Rote Armee“ die Hauptstadt Bukarest besetzt. Auf sowjetrussischen Befehl wurden zwischen 11. und 16. Januar 1945 rund 80000 Rumäniendeutsche zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt. Davon waren alle drei Gruppen der deutschen Minderheit betroffen.

Der Kern des Roman ist das Schicksal Oskar Pastiors, der 2006 verstorben ist. Es wurde der fiktiven Figur des 17jährigen Leo Auberg zugeordnet. Dieser junge Mann aus Hermannstadt in Siebenbürgen, dessen Verhaftung im ersten Kapitel „Vom Kofferpacken“ beschrieben wird, begreift nicht, was ihm geschieht und warum er von allen Verwandten, die hilflos zusehen müssen, beschenkt wird: „Es war 3 Uhr in der Nacht zum 15. Januar 1945, als die Patrouille mich holte. Die Kälte zog an, es waren minus 15 Grad. Wir fuhren auf dem Lastauto mit Plane durch die leere Stadt zur Messehalle. Es war die Festhalle der Sachsen. Und jetzt das Sammellager. In der Halle drängten sich an die 300 Menschen. Auf dem Fußboden lagen Matratzen und Strohsäcke. Die ganze Nacht kamen Autos, auch von den umliegenden Dörfern, und luden eingesammelte Leute aus. Gegen Morgen waren es an die 500.“

Es ist die Zeit des Hochstalinismus in Osteuropa, auch wenn dieses Wort und andere wie „Archipel Gulag“ nie erwähnt werden in den 34 Kapiteln dieses Buches. Menschenleben sind billig und besonders die einer deutschen Minderheit, der die „deutsche Schuld“ aufgebürdet wird. In den Lagern, in denen die Verschleppten, ohne die Befristung zu kennen, fünf Jahre bei Schwerstarbeit ausharren müssen, wird ununterbrochen gehungert: „Ich wollte langsam essen, weil ich länger was von der Suppe haben wollte. Aber mein Hunger saß wie ein Hund vor dem Teller und fraß.“ Der verschleppte Rechtsanwalt Paul Gast stiehlt ständig seiner Frau die karge Essensration, bis sie an Hunger stirbt. Der Hunger ist so übermächtig, dass Herta Müller die Gestalt des „Hungerengels“ erfindet, der alles und alle beherrscht. Jörg Bernhard Bilke

Herta Müller: „Atemschaukel“, Hanser-Verlag, München 2009, geb., 304 Seiten, 19,90 Euro


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