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07.11.09 / Der bittere Preis der Einheit / Der Fall der Mauer besiegelte das Ende der SED-Diktatur, aber auch den Verlust der deutschen Ostgebiete

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-09 vom 07. November 2009

Der bittere Preis der Einheit
Der Fall der Mauer besiegelte das Ende der SED-Diktatur, aber auch den Verlust der deutschen Ostgebiete

Parlamentsalltag in der Bonner Republik. Der Bundestag tritt zur 174. Sitzung der elften Wahlperiode zusammen. Es ist Donnerstag, der 9. November 1989, und morgens um 9 Uhr schien an diesem historischen Tag noch alles seinen gewohnten Gang zu gehen.

Vor allem für den Abgeordneten Wilfried Böhm war die Welt in Ordnung. Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth nahm einen ihm zuvor erteilten Ordnungsruf zurück. Der Anlass: Böhm – von den Lesern dieser Zeitung als langjähriger Autor geschätzt – hatte die spätere Bundesministerin Heidi Wieczorek-Zeul der Zusammenarbeit mit Mauermördern geziehen.

Zehn Stunden später war für eben diese Mauermörder die Welt nicht mehr in Ordnung. Während das Bundestagsplenum sich über die soundsovielte Rentenreform, Streichung des Sterbegelds für Abgeordnete, Einkommenseinbußen der Getreidebauern und Verbesserung des Gemeinnützigkeitsrechts zum Tagesordnungspunkt „steuerliche Erleichterungen für Sportvereine“ vorarbeitet, tagt in „Berlin, Hauptstadt der DDR“, das Zentralkomitee der SED. Der Leiter des DDR-Passwesens, Gerhard Lauter, legt den Entwurf eines neuen Reisegesetzes vor. Kernaussage: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden … Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin (West) erfolgen“ – und zwar schon ab dem 10. November. Zwar ahnt Honecker-Erbe Egon Krenz: „Wie wir’s machen, machen wir’s verkehrt.“ Die wahre Tragweite aber begreift noch niemand im ZK. Achtlos wird der Zettel mit Lauters Entwurf abgenickt und Günter Schabowski zugeschoben, „für die heutige Pressekonferenz“. An sich hatte der Beschluss die Sperrfrist 10. November, 4 Uhr morgens. Doch das bekam Schabowski nicht mit, der bei diesem Teil der Sitzung nicht im Raum war.

18 Uhr: Schabowski, in Personalunion Regierungssprecher und Chefredakteur des SED-Organs „Neues Deutschland“, begrüßt die in Ost-Berlin akkreditierte internationale Presse. Mit langatmigen Verlautbarungen über die Macht­erhaltungs-Diskussionen im ZK schläfert er die Kollegen ein.

Derweilen nähert sich der Bundestag einem SPD-Antrag zwecks Steuerermäßigung für Schwulen- und Lesbenvereine (Zwischenruf von der CDU/CSU: Das ist sehr einschläfernd!). Hüben wie drüben ahnt noch niemand, dass in wenigen Minuten Weltgeschichte geschrieben wird.

18.51 Uhr: Schabowski wähnt sich bereits am Ende seiner Pressekonferenz. Da fragt ein italienischer Journalist, ob es Neues in Sachen Reisegesetz gibt. Dem Regierungssprecher fällt der Zettel ein, den Krenz ihm zugesteckt hat. Offenbar nicht mit dem Inhalt vertraut, liest er stockend die entscheidenden Sätze bezüglich der Reisefreiheit vor. Ein Kollege von „Bild“ fragt nach, ab wann. Schabowski: „Nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich.“

Wenige Minuten später legt er in einem Interview mit einem US-Fernsehsender nach und bekräftigt ausdrücklich, dass ab sofort jeder DDR-Bürger durch die Mauer (die er dezent „the border“ nennt) nach Westen gehen darf. Das klingt nicht nach Zufall oder Versehen.

Die weltverändernde Passage dieser denkwürdigen Pressekonferenz geht in West und Ost über die Bildschirme, erreicht Millionen von Menschen. Nur im Gebäude des ZK und in der Parteibonzensiedlung Wandlitz, auch bekannt als Volvograd, bekommt keiner der SED-Gewaltigen etwas mit vom nahenden Ende – das „Tal der Ahnungslosen“ einmal anders herum.

Ganz anders hingegen beim „Klassenfeind“ in Bonn. Minuten nach der Übertragung der Pressekonferenz ruft Bundestagsvizepräsident Dieter-Julius Cronenberg den CSU-Abgeordneten Karl-Heinz Spilker auf. Der teilt, bevor er zu seinem Thema, der Vereinsförderung, kommt, dem Plenum mit: „Ab sofort können DDR-Bürger direkt über alle Grenzstellen zwischen der DDR und der Bundesrepublik ausreisen.“ Das Protokoll vermerkt: „Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD“, nicht jedoch bei den Grünen. Während das Plenum sich noch eine gute Stunde lang eher lustlos und desinteressiert an Übungsleiterpauschalen und Vereinsspenden abarbeitet, informiert Bundesinnenminister Rudolf Seiters telefonisch Bundeskanzler Helmut Kohl, der zum Staatsbesuch in Polen weilt.

Gegen 20 Uhr: Immer mehr Menschen versammeln sich auf beiden Seiten der Berliner Grenzübergänge. An der Bornholmer Straße spitzt sich die Lage bald zu. Der Diensthabende, Oberstleutnant Harald Jäger, fragt seine Mitarbeiter, vor allem aber sich selbst: „Was soll ich tun? Ausreisen lassen? Oder soll ich schießen lassen?“ Seine Vorgesetzten lassen ihn im Stich, sind nicht erreichbar oder wissen auch nicht, was zu tun ist. Eigenmächtig entscheidet er: Es wird nicht geschossen! Um 20.30 Uhr öffnet er erste „Ventile“ (Ausreise mit getarntem Ausbürgerungsstempel), um 22.30 Uhr lässt er die Schlagbäume heben und Zigtausende unkontrolliert hinüber in den Westen (und später auch wieder zurück). Stasi-Offizier Jäger – einer der Helden dieses Abends.

In Bonn unterbricht Vizepräsidentin Annemarie Renger um 20.22 Uhr die Bundestagssitzung für eine halbe Stunde. Rudolf Seiters, SPD-Chef Jochen Vogel, Unionsfraktionschef Alfred Dregger, Grünen-MdB Helmut Lippelt und FDP-Fraktionschef Wolfgang Mischnik geben Erklärungen ab. Wilfried Böhm, mit dem die Sitzung vor zwölf Stunden begonnen hatte, tritt noch einmal in Erscheinung: Gemeinsam mit Helmut Sauer erhebt er sich, stimmt die Nationalhymne an. Die Kollegen von Union, FDP und SPD singen mit, während einzelne (nicht alle!) Grüne fluchtartig den Saal verlassen.

Der Rest dieses denkwürdigen Tages: pure Freude über das Ende der Teilung. Dass die Einheit in Recht und Freiheit einen hohen politischen Preis hat, wird im Freudentaumel verdrängt. Bald aber zeigt sich: Die Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegs-Teilstaaten wird erkauft mit dem Verzicht auf uralte deutsche Provinzen und Siedlungsgebiete im Osten. Wieder einmal sind es die Millionen Heimatvertriebenen, allen voran Ostpreußen, Schlesier, Pommern und Sudetendeutsche, die die Zeche von 1945 zu zahlen haben. Für sie ist und bleibt der 9. November ein Freudentag mit bitterem Beigeschmack.     Hans-Jürgen Mahlitz


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