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07.11.09 / »Ich bin Bulgare, Bulgaaaare!« / Was Aleko Konstantinow seinen Baj Ganjo in Europa erleben lässt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-09 vom 07. November 2009

»Ich bin Bulgare, Bulgaaaare!«
Was Aleko Konstantinow seinen Baj Ganjo in Europa erleben lässt

Sofia 1880: Baj Ganjo, Rosenölhändler aus dem Rodopen-Gebirge, fährt nach „Europa“ – in einem bulgarischen Zug mit bulgarischer Lokomotive, davon überzeugt, „Europa wird sehen, dass Bulgarien nicht schläft“. Es wird Abend, im ganzen Zug gibt es kein Licht – „das haben wieder die verdammten Ausländer getan“ – und zuletzt bestätigt die Reisegesellschaft die alte Regel, dass „Balkan“ dort ist, wo Zugtoiletten kurz nach Grenzübertritt zum Davonlaufen aussehen.

So steht’s im erzkomischen Geschichtenzyklus um Baj Ganjo, ein literarisches Kind von Aleko Konstantinow (1863–1897). „Schtastliweza“ (der Glückliche) nannte er sich, und so heißt auch Sofias „Hausberg“, zu dem Konstantinow eine Massenwanderung ausrichtete, die ihn zum Begründer des bulgarischen Naturschutzes machte.

„Vesela Balgarija“ (Fröhliches Bulgarien) hieß ein Literatenzirkel, dem Konstantinow vorstand und in dem er seine Baj-Ganjo-Stories dem Lachtest unterzog. Seinen Helden schickte der Dichter durch ganz Europa, von einem „Clash of civilisations“ zum nächsten. In einem Wiener Hallenbad schockt Baj Ganjo, die Beine von bunten Balkan-Strümpfen verfärbt, die „versteinerten Deutschen“ mit abenteuerlichen Schwimmstilen und Sprüngen und steht schließlich auf dem Sprungturm, wie King Kong auf die Brust trommelnd und brüllend: „Ich bin Bulgare, Bulgaaaare!“ Ähnlich bricht der in Kleidung, Manieren, Sprache und Gehabe so archetypische Bulgare in Budapester Opernabende, Dresdner Trauerfeiern und Prager Ausstellungen ein, stellt alles auf den Kopf und wundert sich dann, wie verrückt seine Umgebung aussieht.

Auch Aleko Konstantinow war Bulgare – klüger und gewitzter als das Gros seiner Landsleute, aber ihnen ehrlich zugetan. Er kannte sie, hat ihre archaischen Sprachkonventionen im Ohr gehabt, ihre bäuerische Souveränität geschätzt, ihren Witz geliebt und sie mit Baj Ganjo in verrückteste Situationen gelotst, aus denen sie immer wieder freikamen. Wer heute, ein gutes Jahrhundert später, seine Baj-Ganjo-Stories wieder liest, der staunt über die Gleichheit bulgarischer Emotionen: „Europa“ damals wie heute. Heute ist es für Bulgaren Chiffre für kühle Prüfung eigener Perspektiven und rationale Annahme von Brüsseler „Hausaufgaben“. Für Konstantinow war „Europa“ ironische Messlatte bulgarischer Andersartigkeit, die nicht unsympathisch, aber auch nicht „europäisch“ ausfiel: Geografische Nähe bringt nicht automatisch entwick­lungspolitischen Gleichschritt.

Aleko Konstantinows Porträt ziert schon lange den bulgarischen 100-Lewa-Schein. Bulgarien ist seit Januar 2007 EU-Land, kriegt irgendwann den Euro – der spätestens dann (neben lateinisch und griechisch) auch kyrillisch beschriftet sein wird, eine Schrift, die Bulgaren im Jahre 893 „erfanden“. Wolf Oschlies


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