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07.11.09 / Wie Feindbilder entstehen / Klassiker neu aufgelegt: In »Perlmutterfarbe« entbrennt zwischen Schülern ein Bandenkrieg

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-09 vom 07. November 2009

Wie Feindbilder entstehen
Klassiker neu aufgelegt: In »Perlmutterfarbe« entbrennt zwischen Schülern ein Bandenkrieg

Eine Verkettung unglücklicher Umstände bringen Alexander – einen der beliebtesten Jungen der A-Klasse – in eine missliche Situation: Alexander ist fasziniert von einer Malfarbe – der Perlmutterfarbe –, die sein bester Freund selbst gemischt hat. Um sie näher zu betrachten, nimmt er sie von Maulwurfs Tisch, und als die Schulglocke zwölf Uhr klingelt, steckt er sie in seinen Ranzen mit der besten Absicht, sie seinem Freund wieder zurückzugeben. Zuvor hat er bei dem Karli aus der B-Klasse ein interessantes Buch gesehen, das er ihm entreißt – natürlich auch mit der guten Absicht, es am nächsten Tag dem B-Karli zurückzubringen. Daheim schüttet er ungeschickterweise die Perlmutterfarbe über das gestohlene Buch. Als er am nächsten Tag in die Schule kommt, ist die Aufregung groß, Dinge sind gestohlen worden. Ein Sündenbock muss gefunden werden. Aus Angst, als Dieb entlarvt zu werden, schweigt Alexander. Er wird von Außenseiter und Augenzeuge Gruber gedeckt und dadurch von ihm abhängig. Denn dieser nutzt die Situation eiskalt aus: Er lenkt den Verdacht auf den B-Karli, beginnt eine Hetzkampagne gegen die B-Klasse und gründet eine straff organisierte Jungendbande mit dem Namen ELDSA (Abkürzung für „Es lebe die stolze A“).

Der Roman die „Perlmutterfarbe – Ein Kinderroman für fast alle Leute“ von Anna Maria Jokl ist bereits im Jahr 1948 erschienen. Die 1911 in Wien geborene jüdische Autorin schrieb den Roman 1937 in ihrem Prager Exil. Das Manuskript musste sie auf der Flucht vor den Nationalsozialisten zurücklassen. Ein Schmugg-ler, dem sie auf der Flucht davon erzählte, brachte es ihr zwei Wochen später über die polnische Grenze nach Kattowitz, wo sie auf ein Visum für England wartete. So konnte die „Perlmutterfarbe“ 1948 veröffentlicht werden. Inzwischen war Jokl von England in die Schweiz emigriert. Nach dem Krieg kehrte sie nach Berlin zurück, wo der Roman im Jahr 1959 verfilmt werden sollte. Die Behörden in Ost-Berlin lehnten dies jedoch ab. Erst Anfang dieses Jahres kam der Film durch den Regisseur Marcus H. Rosenmüller in die Kinos.  

Im Roman schildert Jokl, deren Gesamtwerk 1995 mit dem Hans-Erich-Nossack-Preis ausgezeichnet wurde, an der Figur Alexanders wie leicht Menschen aufgrund von Abhängigkeiten dazu verleitet werden, die Wahrheit zu leugnen und ihren Charakter verändern. Je weiter sich Alexander in sein Lügennetz verstrickt, desto mehr entfernt er sich von seinen Freunden, die sich gegen die ELDSA stellen. Plakativ beschreibt die 2001 in Jerusalem verstorbene Schriftstellerin auf diese Weise, wie Feindbilder entstehen.

Anhand Grubers zeigt sie, wie ein Außenseiter die Macht durch Lügen, Erpressung, Gewalt und Intrigen an sich reißt. Wer kritische Fragen stellt, wird bekämpft und verleumdet. Die Feindschaft zwischen den beiden Klassen verschärft sich, und es kommt sogar zu Gewalttaten. Gruppendynamische Prozesse kommen zum Tragen.

Ganz eindeutig ist die Schulsituation auf den Nationalsozialismus gemünzt. Der Film von Rosenmüller macht dies allerdings noch deutlicher: Die Mitglieder der ELDSA tragen braune Halstücher und Gruber wird in einer Anspielung auf die gegenüber Adolf Hitler übliche Wendung an einer Stelle des Films mit „Ja mein Gruber!“ angesprochen.

Was den Roman anbelangt, so hat man als Leser den Eindruck, als schwinge der erhobene Zeigefinger in jeder Zeile mit. Dies wird besonders anhand der Skrupel und Gewissensbisse, die Alexander gegenüber seiner Mutter und Karli plagen, deutlich. Durch die klare Einteilung der Schüler in Gut und Böse scheint der Roman krampfhaft das Gütesiegel „pädagogisch wertvoll“ für sich beanspruchen zu wollen.  

Vor dem historischen Hintergrund des Nationalsozialismus und seiner Entstehungsgeschichte betrachtet, ist die „Perlmutterfarbe“ jedoch ein mutiger Kinderroman „für fast alle Leute“.   Vittoria Finzi

Anna Maria Jokl: „Die Perlmutterfarbe“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, broschiert, 281 Seiten, 10 Euro


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