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21.11.09 / Kollektive Trauer – Hoffnung auf Besinnung?

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 47-09 vom 21. November 2008

Nachgefragt:
Kollektive Trauer – Hoffnung auf Besinnung?
von Hans-Jürgen Mahlitz

You’ll never walk alone – niemals wirst du alleine gehen: Als globale Fußballhymne ertönt der Song aus dem Broadway-Musical „Carousel“ nicht nur an der legendären Anfield Road in Liverpool, sondern in den Stadien der Welt, wo immer 22 junge Leute in kurzen Hosen einem aufgeblasenen Stück Leder nachjagen. Auch die tränenreiche Trauerfeier im Fußballstadion zu Hannover stand ganz im Zeichen des Kultliedes. 40000 Freunde und Verwandte, Fans und Funktionäre aus Sport und Politik suchten Trost in Versen wie „Don’t be afraid of the dark/hab’ keine Angst vor der Dunkelheit“ oder „Walk on with hope in your heart/geh weiter mit Hoffnung im Herzen“.

Der, um den hier und im ganzen Lande, ja in der ganzen Fußballwelt getrauert wurde, war seinen letzten, seinen schwersten Weg freilich allein gegangen. Er war, um dem Liedtext zu folgen, viele Jahre seines jungen Lebens „durch den Sturm gegangen“, für die Außenwelt durchaus „erhobenen Hauptes“. In Wahrheit aber hatte er die „Angst vor der Dunkelheit“ nie besiegen können, hatte keine „Hoffnung im Herzen“, sah „am Ende des Sturms“ keinen „goldenen Himmel“, zumindest nicht in diesem irdischen Leben, dem er nun selbst ein Ende setzte.

Zum Helden und Idol wurde Robert Enke, geboren am 24. August 1977, gestorben am 10. November 2009, eigentlich erst durch die öffentliche Anteilnahme, die seinem einsamen Tod folgte. Als Torwart zeigte er immer wieder exzellente Leistungen, brachte es zum Leistungsträger und Mannschaftskapitän bei Benfica Lissabon und Hannover 96, hatte die Chance, mit der deutschen Nationalmannschaft nach Südafrika zu reisen – und vielleicht gar als Weltmeister zu- rückzukehren. Das wäre dann freilich sein erster großer Titel geworden; bislang hatte es weder zu einem Pokal noch zu einer Meisterschaft gelangt. Möglicherweise lag hier eine der Ursachen seiner schweren psychischen Erkrankung. Wer stets das Beste gibt und allenfalls das Zweitbeste zurückbekommt, kann – auch außerhalb des Leistungssports – in Depression verfallen.

Bis zuletzt wurde Robert Enke wahrgenommen als ein mustergültiger Profi, den Erfolge nicht übermütig, arrogant oder elitär machten, der mit sportlichen Rück­schlägen wie auch mit viel schlimmeren persönlichen Schicksalsschlägen umzugehen, sie in Leistung, Verantwortungsbereitschaft und soziales Engagement umzusetzen verstand. Er hatte nur Freunde, sein einziger Feind war das krankhaft Finstere in seiner Seele.

Dies aber machte er erst mit seiner Selbsttötung öffentlich. Zeitlebens hatte er panische Angst, als psychisch Kranker ausgesondert, als Versager und Schwächling verachtet zu werden. So wurde die Angst vor dem Bekanntwerden der Krankheit zum Teil der Krankheit.

Über das Einzelschicksal hinaus sollte der jähe Tod dieses sympathischen jungen Menschen ein Fanal sein, ein Anlass, einmal innezuhalten und darüber nachzudenken, dass in unserer Gesellschaft einiges auf fürchterliche Weise schiefgelaufen ist.

In der Tat wirkte die Betroffenheit so vieler Menschen – der Fußballfans wie der vielen, die sich eigentlich gar nicht für Sport interessieren – glaubwürdig. Diese Tränen, die uns tagelang über alle TV-Kanäle und Boulevard-Titelseiten in Großaufnahme frei Haus geliefert wurden, waren zweifellos echt. Die Worte, die Sportkameraden, Verbandsfunktionäre, Politiker und Geistliche, vor allem aber die tapfere Witwe fanden, hatten Tiefe und waren dem ebenso traurigen wie schockierenden Anlass angemessen.

Aber wie lange wird die Wirkung andauern? Wann werden wir alle wieder zur Tagesordnung übergehen und vergessen, dass wir gerade noch meinten, nichts werde mehr so sein wie zuvor? Werden die Fans, wenn wieder einer ihrer Helden Schwäche zeigt, wirklich nicht mehr so brutal und herzlos über ihn herfallen? Werden notorische Krawallmacher künftig nicht mehr den Sport und andere Massenveranstaltungen als Kulisse für abartige Gewaltorgien missbrauchen? Werden Vereinsbosse und -manager davor zurückschrecken, Leistungssport als moderne Form der Sklaverei auf höchstem Niveau zu organisieren, junge Menschen zu kaufen und zu verkaufen und sie nur noch nach ihrem aktuellem Marktwert zu beurteilen?

Machen wir uns doch nichts vor: Gerade in diesen unmenschlichen Auswüchsen ist der Sport ein getreues Spiegelbild unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die geprägt ist von Geldgier, Kälte und Rücksichtslosigkeit. Robert Enke war ja kein Einzelfall. Nach seriösen Angaben leiden in Deutschland an die vier Millionen Menschen an Depressionen, knapp fünf Prozent der Bevölkerung. Laut WHO ist Depression weltweit die vierthäufigste Krankheit. Die Prognosen der UN-Gesundheitsorganisation lassen erwarten, dass die Psycho-Krankheit bis 2020 auf Rang zwei vorgerückt sein wird.

Natürlich führt bei weitem nicht jede Depression zwangsläufig zur Selbst­tötung. Doch auch hier sind die Zahlen erschreckend. Pro Jahr nehmen sich in Deutschland rund 10000 Menschen das Leben, doppelt so viele, wie bei Verkehrs­unfällen sterben. Die Dunkelziffer dürfte erheblich sein – viele Selbsttötungen gerade bei älteren Menschen werden von den Ärzten nicht erkannt.

Was treibt einen Menschen dazu, die in jedem von uns tief verwurzelte Selbst­tötungshemmung zu überwinden? Auch wenn die konkreten Anlässe sehr unterschiedlicher Art sind – einige Grund­muster lassen sich sehr wohl benennen.

Zum Beispiel die Vereinsamung unserer so genannten Single-Gesellschaft. Kinder, die mehr Zeit mit Playstation und Computer, Video und TV verbringen als mit Eltern, Spielkameraden oder Geschwistern. Menschen, die plötzlich spurlos verschwinden und monatelang von niemandem vermisst werden. Alleinlebende Alte, die wochenlang tot in ihrer Wohnung liegen, bis einem Nachbarn endlich etwas auffällt. Schlimm, dass all dies heute zum Alltag gehört, noch schlimmer aber, dass sich niemand mehr darüber aufregt.

Ein zweites Beispiel: In unserer rücksichtslosen, wahrhaft gottverlassenen Welt muss der Mensch stark und hart sein, eben „cool“. Wer schwach ist (oder etwas offenbart, was als Schwäche ausgelegt werden kann), wird beiseite gedrängt, hat keine Chance mehr, ist „zum Abschuss freigegeben“. Das Faustrecht regiert: Der Starke gewinnt, der Schwache geht unter. Ob Rousseau sein „Zurück zur Natur“ wirklich so gemeint hat?

Dass solch fatale Fehlentwicklungen unserer modernen Gesellschaft einen nicht unbeträchtlichen Anteil haben am seelischen Leiden von Millionen (mit tödlichem Ende für Tausende!), wurde im Rahmen der öffentlichen Trauer um Robert Enke durchaus thematisiert. Zumindest darin unterschied sich diese Massen- und Medien-Inszenierung positiv von dem eher peinlichen Spektakel nach dem Drogentod des umstrittenen Pop-Idols Michael Jackson.

Aber was bleibt? Darf man auf die so gern zitierte Nachhaltigkeit hoffen? Wenn ein solcher Tod überhaupt einen Sinn haben kann, dann doch diesen: Anstoß zu geben zur Besinnung, zur Umkehr. Und dazu, dass leidende Menschen keine Angst mehr davor haben müssen, dass jemand etwas von ihrer Krankheit erfährt.

Oder wird, wenn nun der erste Schock vorüber ist, die tausendfachen Tränen getrocknet sind und die Medien sich anderen Erregungsthemen zugewandt haben, doch wieder jeder seinen Weg allein gehen wollen, egal, zu welchem Ende er führt? Die Hoffnung stirbt zuletzt.


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