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28.11.09 / Fernsehen zum Lesen / Stefan Aust über Wendezeit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 48-09 vom 28. November 2009

Fernsehen zum Lesen
Stefan Aust über Wendezeit

„Stell Dir vor, Du hast ein Loch in der Badewanne, da läuft das Wasser raus, dann ist es doch besser, Du nimmst den Stöpsel raus, dann läuft das Wasser kontrolliert durch den Abfluss und nicht durch die Wohnung“, erklärt der damalige Chefredakteur des „Spiegel TV Magazins“ Stefan Aust Anfang November 1989 dem damaligen „Spiegel“-Chefredakteur Werner Funk. Er war davon überzeugt, der stellvertretende Staatsratsvorsitzende Egon Krenz würde nach der Aufhebung der Visa-Sperre für die Tschechoslowakei nun auch die Mauer aufmachen. Funk lacht seinen Mitarbeiter aus. Doch Aust folgt seiner Intuition und schickt am 7. November ein Kamerateam nach Ost-Berlin. Zwei Tage später fällt die Mauer – zuerst am Grenzübergang Bornholmer Straße – und das Fernsehmagazin fängt live die bewegenden Bilder ein. Menschen aus Ost und West liegen sich in den Armen und feiern gemeinsam nach 28 Jahren der Trennung durch Beton, Stacheldraht und Todesstreifen.

In seinem Buch „Deutschland, Deutschland – Expeditionen durch die Wendezeit“ rekonstruiert Aust minutiös die damaligen Geschehnisse. Vor dem Mauerfall hatte der „Spiegel TV“-Reporter wenig mit der DDR zu tun: „Stattdessen fuhr man in die USA, nach Frankreich, England, Italien und Spanien. Der Ostblock war grau und langweilig.“ Doch nun beginnt für Aust und seine Kollegen die „journalistisch interessanteste Zeit überhaupt“. Von 1989 bis 1993 drehen sie zahlreiche Dokumentationen und Reportagen über das „unbekannte Land“ und lüften so manches dunkle Geheimnis.

Sensationell, als das Fernsehen die Bilder jener Plattenbauten zeigt, in denen die DDR-Führung ausgestiegenen RAF-Terroristen Unterschlupf gewährte und neue Identitäten verschaffte. Spektakulär, als Reporter aufdeckten, wie das Ministerium für Staatssicherheit Ende der 1980er Jahre Textilstücke mit Geruchsproben von Dissidenten in Einmachgläsern aufbewahrte. Anhand dieser sollten abgerichtete Bluthunde im Notfall die Spur der Abtrünnigen aufnehmen. Skandalös, als vermeintliche Helden der friedlichen Revolution, wie der Christdemokrat Wolfgang Schnur oder der SPD-Politiker Ibrahim Böhme, als Stasi-Spitzel enttarnt werden.

Doch Aust holt nicht nur die politischen Akteure vor die Linse, sondern zoomt auch die alltäglichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im real existierenden Sozialismus heran. Er berichtet über die körperlichen Krankheiten der Bewohner Bitterfelds, Europas dreckigster Industriestadt, und über die seelischen Qualen der ehemaligen Insassen des Zuchthauses Bautzen, dem „Gelben Elend“.

Am Beispiel der Eiskunstläuferin Katharina Witt veranschaulicht der Autor schließlich das schwierige Ankommen der DDR-Bürger in einem anderen gesellschaftspolitischen System. „Von heute auf morgen sich umzustellen, selbstständig zu sein, Entscheidungen zu treffen für dein eigenes Leben, das fällt vielen sehr, sehr schwer“, sagt das „schönste Gesicht des Sozialismus“ im Interview, und Aust kommentiert: „Die wirkliche Wende findet im Kopf statt. Nicht nur bei ihr.“

Das Buch ist ein spannendes Protokoll erlebter Zeitgeschichte. Nahaufnahmen von Personen, Orten und Ereignissen zeigen ein farbiges Bild vom Untergang der DDR und ihrer Entwicklung bis zur Wiedervereinigung. Fernsehen zum Lesen! Sophia E. Gerber

Stefan Aust: „Deutschland, Deutschland − Expeditionen durch die Wendezeit“, Hoffmann und Campe-Verlag, Hamburg 2009, geb., 286 Seiten, 20 Euro


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