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05.12.09 / Wie polnisch war »Ostpolen«? / Polens heutige Ostgrenze basiert weitgehend auf der vor 90 Jahren gezogenen Curzon-Linie

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 49-08 vom 05. Dezember 2009

Wie polnisch war »Ostpolen«?
Polens heutige Ostgrenze basiert weitgehend auf der vor 90 Jahren gezogenen Curzon-Linie

Die heutige Ostgrenze der Republik Polen entspricht weitgehend der so genannten Curzon-Linie, die sich ihrerseits an der Volkstums- und Sprachgrenze orientiert. Vor 90 Jahren verkündeten die Sieger des Ersten Weltkrieges auf der Pariser Friedenskonferenz die nach dem damaligen britischen Außenminister George Curzon benannte Linie als Demarkationslinie.

Die „14 Punkte“ des US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, auf deren Basis die Deutschen sich 1918 zum Friedensschluss bereit erklärt hatten, enthielten mit dem 13. auch einen Punkt über Polen und seine Grenzen: „Ein unabhängiger polnischer Staat sollte errichtet werden, der alle Gebiete einzubegreifen hätte, die von unbestritten polnischer Bevölkerung bewohnt sind; diesem Staat sollte ein freier und sicherer Zugang zur See geöffnet werden, und seine politische sowohl wie wirtschaftliche Unabhängigkeit sollte durch internationale Übereinkommen verbürgt werden.“

Anders als bei der Westgrenze zu Deutschland waren die Siegermächte des Ersten Weltkrieges bemüht, Polen im Osten eine Grenze zu geben, die dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, also der Volkstums- beziehungsweise Sprachgrenze entsprach. Polens östlicher Nachbar, das vormalige Zarenreich, zählten die Kriegssieger nämlich im Gegensatz zu Polens westlichem Nachbarn nicht zu ihren Gegnern. Zwar betrachteten sie Russlands „Rote“ wie die Deutschen als Paria, doch gaben sie sich noch längere Zeit der Hoffnung hin, dass die von ihnen unterstützten „Weißen“ die zukünftigen Herren Russlands wären.

Folgerichtig entwickelten die Sieger auf der Pariser Friedenskonferenz für Polens Abgrenzung gen Osten eine Demarkationslinie, die weitgehend der Sprachgrenze entsprach. Am 8. Dezember 1919 wurde der polnischen Regierung diese Linie mitgeteilt mit der Erlaubnis, bis dorthin ihre Verwaltung auszudehnen. Diese „Linie des 8. Dezember“ bezeichnen wir heute als „Curzon-Linie“.

Ebenso wie im Westen war die polnische Regierung jedoch auch im Osten nicht bereit, sich mit den mehrheitlich von ihren Landsleuten bewohnten Territorien zu begnügen. Wilsons Vorgabe, dass der polnische Staat alle Gebiete „einzubegreifen“ habe, die von unbestritten polnischer Bevölkerung bewohnt sind, legte die Regierung vielmehr in der Weise aus, dass alles Polen sei, wo Polen leben, unabhängig davon, ob sie in ihrer Heimat die Mehrheit bilden.

Mit Waffengewalt trachtete Warschau nun zu gewinnen, was die Sieger in Paris ihnen nicht gewährt hatten. Russlands Bolschewiki verhielten sich im Grunde ähnlich wie zuvor im Ersten Weltkrieg gegenüber den Mittelmächten. Der Kampf um die Macht im Inneren gegen die „Weißen“ hatte für sie Vorrang vor Grenzfragen im Konflikt mit ausländischen Mächten. Vielleicht hatten die Bolschewiki auch ähnlich wie beim Friedensschluss von Brest-Litowsk mit den Mittelmächten die Hoffnung, dass es doch nur um ein Provisorium ginge. Jedenfalls schlug Lenin selbst am 28. Januar 1920 Friedensverhandlungen auf Basis einer Demarkationslinie vor, die zwischen 280 und 400 Kilometer östlich der Volkstumsgrenze lag. Der polnischen Regierung reichte das jedoch nicht. Sie hoffte auf noch mehr Landgewinn.

Im Juni des Jahres wendete sich jedoch das Schlachtenglück. Polens Streitkräfte gerieten in die Defensive und mussten sich zurückziehen. Bis zum Juli rückten die Russen bis zur Curzon-Linie vor. In dieser Situation bat der polnische Premier die auf der Konferenz von Spa vereinten alliierten Staatsmänner um Hilfe. Ein weiteres Mal versuchten nun die Alliierten, die „Linie vom 8. Dezember“ als Grenze durchzusetzen. Nachdem sich die polnische Seite am 10. Juli 1920 zum Rück­zug hinter die Curzon-Linie verpflichtet hatte, schlugen die Alliierten telegrafisch den Russen einen Waffenstillstand mit ihr als Demarkationslinie vor. Da das entsprechende Telegramm vom britischen Außenminister George Curzon unterschrieben war, begann sich der Name „Curzon-Linie“ durchzusetzen.

Um ihrem Vorschlag Nachdruck zu verleihen, hatten die Alliierten den Russen für den Fall des Überschreitens der Linie mit der militärischen Unterstützung Polens gedroht. Das hinderte die Sowjets nicht, ihren Vormarsch fortzusetzen. Mit alliierter Unterstützung gelang es den Polen allerdings, die Russen im August 1920 vor Warschau zu stoppen. Analog zum „Wunder an der Marne“ spricht man in diesem Zusammenhang gerne vom „Wunder an der Weichsel“. Nun bewegte sich die Front wieder Richtung Osten und es waren die Russen, die einen Friedensvertrag auf Basis der Curzon-Linie vorschlugen. Dazu waren aber wiederum die Polen nicht bereit. Das Ergebnis der von den Alliierten vermittelten Friedensverhandlungen war schließlich der Friede von Riga. In diesem am 18. März 1921 geschlossenen Frieden konnte Polen eine rund 250 Kilometer östlich der Volkstumsgrenze liegende Staatsgrenze durchsetzen. Selbst nach polnischen Angaben umfasste die Bevölkerung zwischen der Curzon-Linie und der nunmehrigen polnischen Ostgrenze in den frühen 1920er Jahren etwa sechs Millionen Ukrainer und Weißrussen, etwa 1,4 Millionen andere, vor allem Juden und Litauer, aber nur etwa 1,5 Millionen Polen – also etwa 17 Prozent. Dennoch wird das Gebiet zwischen der Volkstumsgrenze beziehungsweise Curzon-Linie im Westen und der in Riga gezogenen Ostgrenze bis zum heutigen Tage in der Bundesrepublik regelmäßig als „Ostpolen“ bezeichnet. Angesichts der Polenfreundlichkeit des Westens mag diese fälschliche Verwendung des Begriffs politisch gewollt sein, aber sie bleibt grob falsch.

Verständlicherweise revidierte Moskau die Friedensregelung von Riga, als Berlin ihm hierzu mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939 und dem anschließenden Angriff auf Polen die Möglichkeit bot. Bemerkenswerterweise verzichtete die Sowjetunion – mit Ausnahme des zu erheblichen Teilen weißrussisch-sprachigen Gebietes um Bialystok – auf die Annektierung polnischen Territoriums und begnügte sich nach dem erfolgreichen Polenfeldzug im Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 mit dem nichtpolnischen „Ostpolen“.

Von westalliierter Seite wurde zwar noch versucht, die Sowjetunion für eine östlich von Lemberg verlaufende B-Variante der Curzon-Linie zu gewinnen, aber diese verzichtete nur auf das westlich der Curzon-Linie liegende Bialystok. Die UdSSR ist nun schon seit fast einem Jahrzehnt Geschichte, aber die von ihr gezogene Ostgrenze Polens auf der Basis der Curzon-Linie hat bis heute Bestand.       Manuel Ruoff

Foto: Polen und die Curzon-Linie (grün): Polens heutige Ostgrenze (rot) und – mit Ausnahme von Bialystok – auch die deutsch-sowjetische Demarkationslinie vom 28. September 1939 (braun) orientiiren sich an der nach George Curzon benannten Linie. Dagegen lag Polens Ostgrenze zwischen 1921 und 1939 (blau) rund 250 Kilometer weiter östlich.

 

Ein polnischer Patriot, von dem Westerwelle hätte lernen können

Bekanntlich hat sich Bundesaußenminister Guido Westerwelle in Warschau gegen die Berufung der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV) Erika Steinbach in den Beirat der Stiftung gegen Vertreibung ausgesprochen und steht deswegen auch in der Kritik.

Sollte Westerwelle indes gemeint haben, dass er als Außenminister mit der Übernahme der polnischen Forderung letztlich eine „Güterabwägung“ von deutsch-polnischer Versöhnung und „persönlicher Profilierung einer Einzelperson“ vollzogen habe, verhielt er sich im Grunde „unpolnisch“. Diesen Schluss legt jedenfalls das Verhalten des früheren polnischen Ministerpräsidenten im Exil, Stanislaw Mikolajczyk nahe, der bis heute in Polen in hohem Ansehen steht.

Fast genau vor 65 Jahren stand Mikolajczyk gleichfalls vor der Forderung nach Anerkennung der Ostgrenze seines Landes – ähnlich wie Frau Steinbach und mit ihr der Deutsche Bundestag 1990/91. Es war die von Stalin verlangte Curzon-Linie, die schon auf der Pariser Friedenskonferenz von 1919 festgelegt und dann nach dem polnischen Überfall auf die im Entstehen befindliche Sowjetunion 1921 einer weiter im Osten gezogenen Linie als Grenze hatte weichen müssen.

Stanislaw Mikolajczyk, damals Ministerpräsident im britischen Exil, war mit Premierminister Churchill noch Moskau gefahren, um Stalin von seiner Forderung abzubringen und eine für Polen günstigere Grenzregelung auszuhandeln. Der Kremlchef dachte jedoch nicht daran, sich mit Mikolajczyk an den Verhandlungstisch zu setzen, sondern fand sich nur bereit, dem polnischen Gast die von der Sowjetunion gewünschte Grenzlinie persönlich mitzuteilen und ihm zu eröffnen, dass das von Polen im Jahr 1921 „annektierte westukrainische und weißrussische Gebiet wieder an die UdSSR zurückgegliedert“ werden müsse. Mikolajczyks Einwand, dass Polen, „das in diesem Kriege so viele Opfer gebracht“ habe und das „einzige Land unter deutscher Besatzung“ sei, „das keinen Quisling hervorgebracht“ habe, „aus diesem Krieg nicht territorial geschwächt hervorgehen“ könne, wischte Stalin ungehalten mit der Bemerkung vom Tisch, dass man „Polen im Norden und Westen mit deutschem Land entschädigen“ werde. Als Mikolajczyk erwiderte, dass er dennoch die von Stalin geforderte Grenze nicht annehmen könne, weil er keine Vollmacht habe, „48 Prozent des polnischen Landes abzutreten“, beschimpfte ihn Stalin als „Imperialisten“, der „Polen ukrainisch und weißrussisch besiedeltes Land einverleiben“ wolle. Im Übrigen sei die von ihm (Stalin) gewünschte Grenzlinie nicht nur „ethnisch gerechtfertigt“, sondern auch zwischen ihm und Churchill und US-Präsidenten Roosevelt auf der Teheraner Konferenz im November 1943 längst verbindlich vereinbart worden. Als Zeugen dieser Vereinbarung rief er den beim Gespräch am 13. Oktober 1944 anwesenden Winston Churchill an, der die Aussage des Kremlchefs sichtlich betroffen bestätigte. Mikolaczcyk zeigte sich über diese Eröffnung gegenüber Churchill zutiefst bestürzt. Als dieser beschwichtigend vorschlug, Mikolajczyk möge zumindest „die Curzon-Linie als vorläufige Grenze“ annehmen und dann „auf der Friedenskonferenz eine Korrektur verlangen“, fuhr Stalin empört dazwischen und erklärte, dass für die Sowjetunion jede spätere Änderung indiskutabel sei. Auf Mikolajczyks abermaligen Einwurf, nicht zu jenen zu gehören, „deren Vaterlandsliebe so verwässert“ sei, „dass sie die Hälfte ihres Landes weggeben“, verlor Churchill die Beherrschung und schrie den polnischen Regierungschef an: „Ihre Argumente sind nichts anderes als ein verbrecherischer Versuch, eine Vereinbarung zwischen den Alliierten zum Scheitern zu bringen. Das ist feige von Ihnen. Sie gehören in eine Irrenanstalt!“ Sprach’s und verließ zusammen mit Stalin wütend den Raum. Den geschichtsbewussten Polen ist dieser dramatische Auftritt vom 13. Ok­tober 1944 noch in lebendiger Erinnerung und ihr tapferer Verteidiger vor Sowjetdiktator Stalin, Stanislaw Mikolajczyk, zum „patriotischen Helden“ geworden.

Außenminister Westerwelle hätte sich an ihm ein Beispiel nehmen und vermutlich viel Ärger ersparen können. Freilich wäre dafür auch einschlägige Geschichtskenntnis nötig gewesen. Aber da scheint hier im Lande die Historia immer noch die beste Lehrerin mit den unaufmerksamsten Schülern zu sein.   Alfred Schickel


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