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05.12.09 / Vom Leben gefordert / Wie Hildegard Rauschenbach ihr Schicksal bewältigt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 49-08 vom 05. Dezember 2009

Vom Leben gefordert
Wie Hildegard Rauschenbach ihr Schicksal bewältigt

Nicht ärgern über das, was man nicht mehr kann, sondern darüber freuen, was man noch kann“, antwortete eine 97-jährige Dame auf die Frage, wie sie es geschafft hat, dieses Alter zu erreichen. Bravo, dachte ich. Nun bin ich zwar noch keine 97, aber genauso überliste ich meinen Alltag. Immer wieder fordere ich meinen Körper und Geist heraus. Das sollte am Lebensabend schon selbstverständlich sein, besonders aber, wenn durch Krankheit Einschränkungen entstanden sind und Grenzen immer enger gesetzt werden.

Immer noch haftet mir der Ruf einer „starken Frau“ an („Du bist stark, du schaffst es“, sagen die Leute). Mein Körper aber spricht eine andere Sprache: Geschwächt nach achtjähriger Dialyse und einen seit sieben Jahren mich sehr belastenden Dauerschwindel nach einem Kleinhirninfarkt kämpfe ich mich durch den Tag. An der Seite meines verständnisvollen Mannes.

Im vergangenen Sommer hatte ich unseren Balkon zum zweiten Wohnzimmer erkoren und saß dort stundenlang, umgeben von üppig blühenden Pflanzen. Ich erfreute mich an den Übungsflügen der jungen Schwalben und dem pfeilschnell dazwischen flitzenden Mauersegler, vor dem Hintergrund eines strahlend blauen Himmels. Nach einigen Tagen dann zogen kleine weiße Wolken wie hingehauchte Wattetupfen vorbei, verdichteten sich zu größeren Wolkengebilden. Kein Grau trübte das keusche Weiß; ein leichter Ostwind hatte sie zu mir schweben lassen. Ich hatte meinen heimatlichen Himmel!

Und plötzlich war sie wieder da, die so unendlich tiefe Sehnsucht nach dem Kindheitsparadies. Fortan schaute ich den weißen Wolken nach und schwelgte in Erinnerungen. Viel vergessen Geglaubtes tauchte auf, war beglückend, schmerznah. Erinnerungen an eine unbeschwerte Kindheit, an Festtage in der Familie. Im Hintergrund war da aber immer ein Gefühl stiller Dankbarkeit: Einem einfachen ostpreußischen Bauernmädchen war so ein erlebnisreiches ausgefülltes Leben beschieden worden.

Noch im siebenten Lebensjahrzehnt erhielt ich Ehrungen, erfuhr die Herzlichkeit und Zuneigung vieler Menschen, konnte meine Landsleute mit heimatlichen Vorträgen erfreuen, und mir wurde bewusst, dass ich einst Spuren hinterlassen werde. Spuren durch meine Bücher und Tonträger, in Wort, Bild und Stimme.

Alle Träume enden einmal und werden durch raue Wirklichkeit verdrängt. Die Frage „Wie geht es weiter“ stand plötzlich im Raum. Viele Menschen, die meines Jahrgangs 1926 oder älter sind, stehen vor dem Problem: „Was mache ich, wenn ich nicht mehr ohne Hilfe in der Wohnung (Haus) bleiben kann?“ Ob noch mit Ehepartner, ob in Obhut der Kinder oder alleinstehend, niemand kann der Realität entkommen: Alles, was man geschaffen hat, was vertraut und wertvoll ist, muss man einmal zurücklassen.

Viele Menschen unseres Alters haben eine Patientenverfügung, haben auch für den Fall ihres Todes vorgesorgt. Solange man geistig und körperlich noch beweglich ist, sollte man sich für Heime mit Pflegeeinrichtungen interessieren, sie eventuell besichtigen, sogar zur Probe dort wohnen. Bis man das Gefühl hat, „hier könnte ich mich wohlfühlen“.

Eines Tages werde ich mich mit meinem Mann dazu aufraffen und diesen Schritt wagen. Bis dahin werde ich meinen Körper weiterhin herausfordern, werde mir kurzfristige Ziele setzen und mich freuen, wenn ich sie erreicht habe.

Ob ich ein sehr langfristig gesetztes Ziel im Juni 2010 erreichen werde? Da würde dann das Ehepaar Rauschenbach seine Diamantene Hochzeit feiern.

Hildegard Rauschenbach

Der Autorin wurde 2008 von der Landsmannschaft Ostpreußen der Kulturpreis für Publizistik verliehen.


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