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19.12.09 / Kollwitz und Zille über die Schulter geschaut / Die Ausstellung »Nahsicht« zeigt, wie die beiden Künstler die Menschen um die Jahrhundertwende in Berlin sahen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 51-09 vom 19. Dezember 2009

Kollwitz und Zille über die Schulter geschaut
Die Ausstellung »Nahsicht« zeigt, wie die beiden Künstler die Menschen um die Jahrhundertwende in Berlin sahen

In einer Ausstellung der Altana Kultur-Stiftung in Bad Homburg vor der Höhe werden erstmals das zeichnerische Frühwerk von Käthe Kollwitz (1867–1945) und die bislang selten gezeigten Fotografien von Heinrich Zille gegenübergestellt. Unter dem Titel „Nahsicht“ kann der Besucher rund 60 Zeichnungen, Skizzen und Druckgrafiken von Käthe Kollwitz aus den Jahren von 1890 bis 1910 und eine fast ebenso umfangreiche Auswahl von Fotografien betrachten, die Heinrich Zille (1858–1929) um die Jahrhundertwende auf Streifzügen durch Berlin festgehalten hat. Sah Zille in der Fotografie das moderne Medium der Bildfindung, reagierte die Königsbergerin Käthe Kollwitz mit dem Zeichenstift auf das Leben in der Großstadt. Ihre Motive fand sie jedoch auch in ihrem ganz persönlichen Umfeld.

Kaum ein Name ist so eng mit Berlin verbunden wie der Heinrich Zilles. Seine typischen „Berliner Gören“ haben Geschichte gemacht. Stets stand er auf der Seite der „kleinen Leute“, kannte das „Milljöh“ von Kindheit an. Der am 10. Januar 1858 als Sohn eines Uhrmachers in Radeburg bei Dresden Geborene siedelte mit seiner Familie 1867 nach Berlin über. Als der Vater arbeitslos wurde, hielt man sich mit Heimarbeit über Wasser und fertigte Tintenwischer oder Nadelkissen an. Zille handelte mit Kommissbrot aus der Alexander-Kaserne, war Laufbursche in einem Tingeltangel, führte Fremde durch die Berliner Sehenswürdigkeiten und verkaufte Programmzettel vor dem Wallner-Theater hinter dem Alexanderplatz. Als Abendschüler ließ er sich an der Königlichen Kunstschule von Theodor Hosemann unterweisen. Hosemann, der Meister Altberliner Malerei, war es auch, der Zille „auf die richtige Schiene schob“. Er gab seinem Schüler den Rat: „Gehen Sie lieber auf die Straße hinaus, ins Freie, beobachten Sie selber, das ist besser als nachmachen.“ Für den Lebensunterhalt arbeitete Zille schließlich bei der Photographischen Gesellschaft und war bald firm in allen grafischen Techniken.

Als seine Arbeiten zum ersten Mal in der Berliner Sezession ausgestellt wurden, war Heinrich Zille bereits über 40 Jahre alt. Dass er 1924 auf Vorschlag von Max Liebermann in die Preußische Akademie der Künste berufen und gleichzeitig zum Professor ernannt werden würde, hatte man ihm ganz gewiss nicht an der Wiege gesungen. Seine Zeichnungen wurden im „Simplicissimus“, in der Zeitschrift „Jugend“ und in den „Lustigen Blättern“ veröffentlicht, auch erschienen Bücher mit Zilles „Kritzeleien“. Er wurde populär.

Parteipolitisch ließ Heinrich Zille sich nicht in eine Ecke drängen und betonte mehrmals: „Ich will der Politik nicht angehören. Ich helfe, wo ich kann, der Armut vor allem.“ Und: „Eigentlich stehe ich abseits – ich gebe Hungernden, Darbenden, die ich kenne. Ich habe mit meinen Sprüchen und Bildern vielleicht etwas getan, vielleicht. Aber wenn ich helfen kann, tue ich es am liebsten in den hungernden Mund – gleich ...“ Man fühlt sich an den Ausspruch von Käthe Kollwitz erinnert: „Ich will wirken in dieser Zeit ...“

Die Königsbergerin erkannte, dass es weitaus mehr als „Kritzeleien auf Papier“ waren, die Heinrich Zille zustande brachte. Auf der Feier zu seinem 70. Geburtstag äußerte sie in einem Gespräch, es gebe „mehr als einen Zille“. Einmal den typischen Witzblattzeichner, zum anderen den Tendenzzeichner. „Dann gibt es aber noch den dritten Zille. Und dieser ist mir der liebste: Der ist weder Humorist für Witzblätter noch Satiriker. Er ist restlos Künstler. Ein paar Linien, ein paar Striche, ein wenig Farbe mitunter – es sind Meisterwerke.“

Als Zille am 9. August 1929 starb, hinterließ er auch ein umfangreiches fotografisches Werk, das hauptsächlich zwischen 1890 und 1910 entstand und erst vier Jahrzehnte nach seinem Tod wiederentdeckt wurde. Zu Lebzeiten stellte er seine Fotos weder aus, noch versuchte er sie zu publizieren – die Fotografie war für ihn offenbar ein ausschließlich privates Unternehmen.

Im Dialog der Zeichnungen von Käthe Kollwitz mit meist privaten Motiven und den Fotografien von Heinrich Zille, darunter zahlreichen Vintage Prints (ein Abzug, der unmittelbar nach Entstehung des Negativs vom Fotografen selbst hergestellt wird), kann man in unverstellter Weise das Leben der Menschen im Berlin der Jahrhundertwende betrachten. Die nicht für die Öffentlichkeit produzierten Arbeiten ermöglichen einen unverstellten Blick über die Schulter der Künstler und machen den besonderen Reiz dieser Ausstellung aus. os

Die Ausstellung im Sinclair Haus, Löwengasse 15, Eingang Dorotheenstraße, Bad Homburg vor der Höhe, ist bis 7. Februar dienstags von 14 bis 20 Uhr, mittwochs bis freitags von 14 bis 19 Uhr, am Wochenende und an Feiertagen von 10 bis 18 Uhr, am 25., 26. Dezember sowie am 1. Januar von 12 bis 18 Uhr geöffnet, Eintritt 5/3 Euro.

Foto: Heinrich Zille: Frau mit Reisigbündel im Herbst (1898)

Foto: Käthe Kollwitz: Hans Kollwitz mit Kerze 1895


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