24.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
19.12.09 / Vor Angst wie gelähmt / Debüt eines Autors aus Italien

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 51-09 vom 19. Dezember 2009

Vor Angst wie gelähmt
Debüt eines Autors aus Italien

„Primzahlen sind nur durch sich selbst teilbar. Sie haben ihren festen Platz, eingeklemmt zwischen zwei anderen, in der unendlichen Reihe natürlicher Zahlen, stehen dabei jedoch ein Stück weiter draußen. Es sind misstrauische, einsame Zahlen … Paare von Primzahlen, die nebeneinander stehen oder genauer, fast nebeneinander, denn zwischen ihnen befindet sich immer noch eine gerade Zahl, die verhindert, dass sie sich tatsächlich berühren.“ Die Protagonisten aus dem Debütroman Paolo Giordanos, Mattia und Alice, sind solche „Primzahlzwillinge“: allein und verloren, sich nahe, aber doch nicht nahe genug, um zueinander zu finden. „Die Einsamkeit der Primzahlen“ ist das Debüt des 27-jährigen Physikers, der sofort die italienische Verkaufshitparade anführte.

Die Geschichte spielt in Turin, der Heimatstadt Giordanos. Mit ihren arkadenüberdachten Straßen, den eleganten Villen auf den Hügeln, der Kirche Gran Madre und dem träge dahinfließenden Po bildet sie die Kulisse für die Geschehnisse, die der Autor durchweg aus der Perspektive seiner Helden schildert. Der Leser erhält Einblick in Schlüsselerlebnisse der beiden Außenseiter, die seit Kindertagen vom Schicksal verfolgt werden. Der sechsjährigen Alice sind die Winterurlaube mit ihrer Familie ein Gräuel. Vom ehrgeizigen Vater angetrieben quält sie sich täglich zum Skikurs und macht sich zwanghaft in die Hosen. Als das Mädchen an einem nebligen Morgen zusätzlich Durchfall bekommt, fährt es aus Scham allein ins Tal, stürzt und hinkt fortan.

An dieser Stelle macht Giordano einen Schnitt und schwenkt zu seiner zweiten Hauptfigur Mattia. Der hochbegabte Junge hat eine autistische Zwillingsschwester, an die er sich mit einer Mischung aus Verantwortungsbewusstsein und Hass gebunden fühlt. Als die Geschwister eines Tages auf dem Weg zu einer Geburtstagsfeier sind, lässt Mattia Michela auf einer Parkbank zurück. Zwei Stunden später will er sie wieder abholen, aber von seiner Schwester fehlt jede Spur. Seither plagen den sensiblen Jungen Schuldgefühle, die sich „in seinem Bauch ablagern“ wie „eine dicke klebrige Schicht“.

Wieder gibt es einen Szenenwechsel. Nach einem Zeitsprung von sieben Jahren rücken Alice und Mattia als Teenager ins Scheinwerferlicht. Ihre Wege kreuzen sich auf dem Gymnasium. Sie ist inzwischen magersüchtig, er verletzt sich selbst. Beide fühlen sich durch ihre seelischen und körperlichen Wunden auf besondere Weise verbunden und erkennen sich selbst im jeweils anderen wieder. Gedemütigt von den Schulkameraden und unverstanden von der eigenen Familie ziehen sie sich in ihre gemeinsame Einsamkeit zurück.

Doch je länger sich das Karussell der Ereignisse dreht, desto mehr entfernen sich die Protagonisten voneinander. Mattia geht nach dem Mathematikstudium als brillanter Wissenschaftler ins Ausland. Alice macht eine Ausbildung zur Fotografin und heiratet sogar. Auch als junge Erwachsenen fällt ihnen die direkte Konfrontation mit der Realität schwer. Lieber verstecken sie sich hinter einer Mauer von Zahlen oder dem Filter der Kamera.

Giordanos Entwicklungsroman brilliert durch seine direkten, schnörkellosen Dialoge ebenso wie durch seinen poetisch-bildhaften Erzählstil. Der Autor lässt seine Leser tief in die Seele des menschlichen Schmerzes eintauchen und zieht ihn in einen starken identifikatorischen Sog. So begreift manch einer nach der Lektüre, wie man sich mit Ängsten und Selbstbezogenheit das Leben unnötig schwer macht.            Sophia E. Gerber

Paolo Giordano: „Die Einsamkeit der Primzahlen“, Blessing, München 2009, gebunden, 368 Seiten, 19,95 Euro


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren