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26.12.09 / Die ostpreußische Familie extra / Leser helfen Lesern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 52-09 vom 26. Dezember 2009

Die ostpreußische Familie extra
Leser helfen Lesern
von Ruth Geede

Lewe Landslied,

liebe Familienfreunde,

wer seine Kindheit in die Tasche gesteckt und sie mitgenommen hat, holt sie jetzt wieder hervor. Zu keiner anderen Jahreszeit gehen die Gedanken an glückliche Kindertage so zurück wie zur Weihnachtszeit. Das gilt besonders für die Älteren unter uns, denn wir konnten noch eine Kindheit in Frieden und Geborgenheit erleben und waren glücklich, auch wenn die Geschenke bescheiden waren. Zu dieser Generation gehöre auch ich, die ich die „Gnade der frühen Geburt“ habe, da ich meine Heimat Ostpreußen noch in ihrer vollen Schönheit erleben durfte. Und so wollte ich eigentlich diese „Weihnachtsfamilie“ mit Erinnerungen und kleinen Geschichten füllen, die unsere Leserinnen und Leser uns zugesandt haben oder zu denen sie den Anstoß gaben. Wie gesagt „eigentlich“ – ein Wort, das zu den meistgebrauchten in unserm Familien-Vokabular gehört, weil es, wie das Sprichwort sagt, immer anders kommt, als man denkt. Denn jeder an unsere Ostpreußische Familie gerichtete Brief enthält neue Informationen, die in vielen Fällen das bereits Geschriebene wieder löschen, weil sich gänzlich neue Perspektiven ergeben haben.

Und so erging es mir jetzt, als ich einen Brief von Helga van der Loo erhielt, die mir Erinnerungen an das von ihr und Hannelore Neumann verwirklichte Treffen der verwaisten Kinder im Nachkriegs-Königsberg übersandte, das im September im Ostheim in Bad Pyrmont stattfand, mich aber auch über eine geplante Königsberg-Reise der Gruppe im kommenden Sommer informierte. Auf dieser Reise soll ein Vorhaben verwirklicht werden, das an die Königsberger Kinder erinnert, die das Grauen nicht überlebten. Zigtausende sind es gewesen, die damals an Seuchen starben oder elend verhungerten. Wohl alle Teilnehmer des Treffens hatten in jenen Tagen Geschwister oder Kinder aus ihrem damaligen Lebensbereich sterben sehen – Eindrücke, die nicht vergessen sind und nie aufgearbeitet wurden. Und so wollen sie auf dem Juditter Friedhof, auf dem viele der verstorbenen Kinder beerdigt wurden, einen Stein setzen, der an dieses Schicksal erinnert. Der besagen soll: Ihr seid nicht vergessen! Frau van Loo konnte einen Weg finden, der sich als begehbar erweist: Sie schrieb an die Evangelische Propstei im heutigen Kaliningrad und bat Probst Jochen Löber um Mithilfe: „Wir würden gerne einen kleinen Stein zum Gedenken an die Zehntausende elendig verstorbenen Kinder im Nachkriegs-Königsberg auf dem Juditter Friedhof oder auch anderswo niederlegen. Unser Wunsch wäre, dass dies umrahmt von einem Gottesdienst im Beisein von Kindern und der dortigen Gemeinde in aller Stille stattfindet ohne öffentliche Präsenz oder Aufsehen. Weiter wäre unsere Bitte an Sie, einen dortigen Steinmetz ausfindig zu machen und ihn mit der Beschriftung des kleinen Gedenksteines zu beauftragen.“  Sehr schnell kam die Antwort aus Königsberg von Probst Jochen Löber: „Das Anliegen ist sehr ernst. Ich kann mir vorstellen, den Stein, den Sie gerne auf dem Juditter Friedhof sähen, hier auf unserem Gelände, dem ehemaligen Luisenfriedhof, aufzustellen. Wir haben in diesem Sommer einen Stein errichtet, der an die auf dem Luisenfriedhof Begrabenen erinnert. Unsere Auferstehungskirche steht auf dem älteren Teil des Friedhofs.“ Probst Löber teilt noch mit, dass auch nichts dagegen stünde, den Stein auf dem Juditter Friedhof aufzustellen, allerdings sehe er dann seine persönliche Mitwirkung sehr begrenzt. So oder so – der Stein wird gesetzt. Und das ist eine gute Nachricht, und sie klingt versöhnlich.

Aber gehen wir jetzt weit, sehr weit zurück auf Weihnachtsreise in die Heimat. In diesem Jahr ist viel von der Heimatdichterin Toni Schawaller in unserer Familien-Kolumne berichtet worden, von ihrem noch erhaltenen Haus in Brakupönen, an dem eine Gedenktafel angebracht wurde. Bild und Berichte weckten  in unserm Leserkreis Erinnerungen an diese liebens- und lesenswerte Autorin, und es wurde die Bitte gestellt, doch auch einmal eine von ihren kleinen Geschichten zu bringen. Das will ich heute tun, wenn es auch nicht eine vollständige Erzählung ist, aber die schönste Stelle aus einer Geschichte aus ihrer Kindheit, die so ganz den Zauber einer ostpreußischen Weihnacht bewahrt hat. Toni Schawaller erzählt von den Vorbereitungen zum Fest in dem kleinen Bauernhaus und wie sie und ihr Bruder die Eltern überraschen wollten, indem sie einen Weihnachtsbaum aus dem Wald holten. Die Bahnwärterkinder hatten ihnen auch für einen Pungel voll blanker, roter Weihnachtsäpfel verraten, wo ein echter Weihnachtsbaum zu finden sei: Mitten im Wald an der Bedugnis, dort stehe ein Tannenbäumchen ganz allein und immer säßen dort Rotkehlchen und Dompfaffen, und ein Eichhörnchen gebe es auch, und der ganze Baum glitzere und funkele, wirklich, ein wahrer Wunderbaum. So zogen denn Toni und ihr Bruder los, um diesen Baum zu schlagen. Mit dem kleinen Handschlitten und einer kleinen Axt ging es zum tief verschneiten Winterwald. Der Bruder erzählte, was ihm der alte Waldwart berichtet hatte: In der Weih-nachtsnacht seien alle Tiere friedlich, da sitze die Wildtaube neben dem Fuchs, die Maus neben der Eule. Das Rotkehlchen aber müsse die Heilige Nacht einsingen. Der alte Kielhorn habe es gehört, als er in der Weihnachtsnacht durch den Wald gegangen sei. Es habe auf einer einsamen Tanne gesessen und mit einem so wundersamen Gesang, wie er ihn noch nie gehört habe, die Heilige Nacht eingesungen.

„Und dann standen wir staunend vor der Bedugnis, diesem schwarzen, unheimlichen Moorsee. Sie sollte ja ohne Grund sein und schon Tiere und Menschen verschlungen haben. Aber jetzt sah die Bedugnis ganz anders aus. Über ihr Eis hatte sich eine leichte Flockendecke gebreitet, die mit Raureif bedeckten Fichten neigten sich tief über den See, die letzten Strahlen der Wintersonne streuten noch einmal glitzernde Diamanten – es sah alles so licht und so verzaubert aus. Und da blieben wir gebannt stehen: Eine kleine kerzengerade gewachsene Tanne stand etwas abseits vom Ufer vor von Raureif überzuckerte Gebüsch. Und unter ihr verhoffte ein Reh. Es war wie im Märchen von Schwesterchen und Brüderchen. Aber wir hatten uns doch geregt, denn das Reh floh mit weiten Sätzen in den Wald. Burr – flog ein großer Schwarm Dompfaffen auf, die auf dem Wunderbaum gesessen hatte. Ein Rotkehlchen aber blieb im bereiften Tannengeäst sitzen. „Das ist das Rotkehlchen, das die Heilige Nacht einsingen soll“, flüsterte ich meinem Bruder zu. Der nickte und steckte die Axt in seine Jacke. „Das ist der Weihnachtsbaum für die Tiere im Wald, den dürfen wir nicht schlagen.“ Wir beide gingen durch den dämmernden Wald zurück. Es begann zu schneien, ganz sacht fielen die Flocken.“

Gebacken wurde im alten Ostpreußen sehr viel, denn ohne Katharinchen und Marzipan in Eigenproduktion war es kein richtiges Fest. Aber in den letzten Kriegsmonaten wurden die Lebensmittel knapp, es mangelte an Backzutaten – und an diese Zeit erinnert sich unsere Leserin Ursula Strahl, die uns eine kleine Geschichte zusandte, die in jenen Kriegsjahren spielt. Sie fügt sich gut in unsere Weihnachtsfamilie ein, meine ich, und ich hoffe, das finden auch unsere Leserinnen und Leser.

„Ich hörte immer wieder von meiner Mutter und von der Oma, man möchte auch mal paar Kuchen für die Soldaten im Feld backen, aber wir haben nicht alle Zutaten. Bei uns war auch schon Trauer eingekehrt, ein Onkel war gefallen, Vater und ein weiterer Onkel vermisst. Eines Tages las ich im ,Insterburger Tageblatt‘ eine Anzeige von Dr. Oetker, Bielefeld. Ich setzte mich hin und schrieb einen Brief, an dessen Inhalt ich mich noch genau erinnere: ,Lieber Herr Oetker, meine Oma und meine Mutter wollen Kuchen backen, sie bekommen leider keine Zutaten, sie wollen den Kuchen ins Feld schicken.‘ Die Oma liest meinen Brief und sagt ,Aber Marjell, nei, das kannst doch nicht schreiben‘, und auch meine Mutter meinte: ,Nein, Kind, so was schickt man nicht ab.‘ Aber ich ließ mich nicht abhalten, den Schrieb unserem Briefträger mitzugeben. Das Briefchen war weg. Ich war damals zwölf Jahre alt, mein erster Onkel Willi war gerade gefallen. Ich komme aus der Schule, so etwa nach 14 Tagen, nachdem ich den Brief abgeschickt hatte. Da sagte meine Mutter: ,Urselchen, schau mal, für dich ist ein Päckchen gekommen!‘ ,Für mich?‘ fragte ich ungläubig. Ich öffnete es gespannt, und was kam zum Vorschein? Dr. Oetkers Backzutaten! Und was da alles geschickt wurde! Ein kleines Briefchen war auch dabei: ,Liebe kleine Ursula, ich schicke Dir heute alles, was Deine Mutti und Oma zum Kuchenbacken brauchen. Aber das ist einmalig, bitte nicht Reklame machen, denn ich beliefere ja sonst nur Geschäfte, keine Privatpersonen.‘ Da meinten Mutti und Omi mahnend: ,Kind, Kind, nun renn nicht gleich ins Dorf und erzähl das rum!‘ Ach, wie gerne hätte ich das getan, sicherlich um damit zu prahlen, was ich kleine Marjell vollbracht hatte!“ Wer hätte sich da nicht gerne „gepörscht“, liebe Frau Strahl. Und es wäre ja auch keine Angeberei gewesen. Aber jetzt kann man das erzählen, liebe Frau Strahl, und es ist auch keine Prahlerei, sondern ein Beweis, dass ostpreußische Frauen auch schon im Marjellenalter sehr tatkräftig sein können. Übrigens hat Ursula Strahl diese kleine Erinnerung vor zwei Jahren auch an die Firma Dr. Oetker in Bielefeld geschickt und bedankte sich noch einmal herzlich nach fast 65 Jahren. Frau Strahl erhielt eine sehr nette Antwort. Ihr Schreiben sei durch sämtliche Abteilungen gelaufen, es sei darüber gelächelt worden, aber auch ein paar Tränen seien geflossen. Man habe den Brief auch dem Seniorchef vorgelegt, der ihn mit Freuden gelesen habe. Ich hoffe, das haben unsere Leser nun auch getan. Für alle, die Krieg und Vertreibung erlebt haben, bleiben die Weihnachtsfeste in den Jahren danach unvergessen. Nicht nur, weil sie voller Entbehrungen waren und man sich glück-lich schätzen konnte, wenn man ein Christbäumchen hatte, das man mit Kerzen schmücken konnte. Aber viele Angehörige und Freunde waren noch in Gefangenschaft, auch dann, als wir schon wieder Pfefferkuchen und Marzipan auf dem Bunten Teller hatten. So wie die Königsbergerin Ruth Buntkirchen, deren Buch „Das gestohlene Jahrzehnt“ viele Leser erschüttert hat wie mich. Sie schilderte darin ihre letzte Weihnacht als „freie Verbannte“ in Sibirien, wo sie sich zusammen mit einem Schicksalsgefährten, ihrem späteren Ehemann, eine erträgliche Lebens- und Überlebenswelt geschaffen hatte. Es ist das Weihnachtsfest 1954, als sie schon auf die Heimreise hofften und doch der so lang ersehnte Brief aus Moskau nicht kommen wollte.

„Da war für unseren Kreis wenigstens das Christfest eine willkommene Gelegenheit, wieder einmal zusammen zu sitzen, um miteinander zu reden, ein biss-chen zu feiern, zu grübeln und, wenn wir Heinrichs Musik hörten, auch lustig zu sein. Am Heiligen Abend waren wir zu Hause, wir hatten ein Tännchen aus dem Wald geholt, das haben wir zaghaft angesungen. Wir haben an unsere Angehörigen gedacht, die jetzt in Deutschland unter den Kerzen des Weihnachtsbaumes feiern, die heute ganz bestimmt in Gedanken bei uns sind. Bei solchen Anlässen wird man schnell wehmütig, und die Tränen fließen leichter, das Heimweh ist viel ausgeprägter als sonst, und die Sehnsucht nach den Angehörigen und dem vertrauten Leben mit ihnen ist so stark, dass es fast körperlich weh tut.“ In jenem harten sibirischen Winter, dem ersten, in dem das Paar etwas Viehzeug hatte, blieb nicht viel Raum für sehnsuchtsvolle Gedanken Es ging darum, die Tiere vor der Kälte zu schützen. „Die beiden Ziegen hatten wir im Stall dicht bei den Pferden untergebracht. Denen machte es nichts aus, wenn die Temperaturen sanken. Aber die Hühner! Das war schon Problem. Es hatte soviel Mühe gekostet, sie groß zu ziehen. Nun konnten wir sie nicht einfach erfrieren lassen. Selbst im Pferdestall war es zu kalt für sie. Was also tun? Als die Kämme der Hennen weiß vor Kälte wurden, da fassten wir den Entschluss, sie zu uns in die Stube zu nehmen. Das war schon eine weihnachtliche Idylle! Am frühen Abend, wenn die Hühner schlafen gehen wollten, legten wir eine Stange quer über die beiden Hocker und setzten sie eigenhändig darauf. Da hatten sie es warm und schliefen ihren Hühnerschlaf bis zum nächsten Morgen. Es war schon ein seltsames Bild, und wir haben so manches Mal über diese Idylle gelacht. Ich bin überzeugt, hätten wir keinen Platz für die Ziegen im Stall gehabt, wären sie auch unsere Schlafgenossen gewesen. Das blieb uns erspart.“ Es war der letzte Winter in Sibirien für das junge Paar und seinen kleinen Sohn. Im April 1955 erfolgte die Heimkehr nach Deutschland.

Und wie feiern wir Weihnacht heute? Helga Henschke schrieb mir einen herzlichen Brief, in dem sie uns Grüße übermittelte „aus Masuren, aus Karwen von den Landfrauen, die uns in unserer alten Dorfschule unser Treffen so schön und heimatlich ausgerichtet hatten. Aus Sensburg von meinen vielen Freunden, die Ihre Erfolgsmeldungen lesen.“ In ihrem Heim in Steinau a. d. Straße gibt es ja noch so eine richtige ostpreußische Weihnacht. „Unser Haus wird schon vor den Feiertagen bevölkert von Kindern und vielen Enkeln. Und so benötigen wir viele ostpreußische Köstlichkeiten, die Mohnstritzel, Christstollen, viele Sorten Plätzchen. Auch der gute Honigkuchen liegt da und muss probiert werden. Freunde schauen herein, denn bei uns gibt es immer leckere Sachen. Die letzten Päck-chen müssen dann die flotten Trakehner befördern. Eine lahme Krag schafft es nicht rechtzeitig. Ja, man macht sich auch im Alter noch viele Mühe, aber es macht viel Freude. Wie arm wäre sonst unser Leben. Wir haben ja Gaben und Aufgaben erhalten!“

Und das entspricht so ganz den Gedanken zur Weihnacht, den die Königsbergerin Hildegard Ruhrmann in einem Gedicht zum Ausdruck bringt, das sie für uns zum Fest geschrieben hat. Es ist ein längeres Gedicht, in dem sie, den Kommerz, das Einkaufsfieber, das laute Trara beklagt, diesen ganzen Rummel, der heute den Sinn der Weihnacht zu überlagern scheint. Ihre letzten Zeilen sind ein guter Abschluss für unsere „Weihnachtsfamilie“, in der – so hoffen wir – jeder etwas gefunden hat, was ihn berührt. Auf jeden Fall ein Stück-chen Heimat!

„Wann kehren Menschen endlich ein bei sich / und finden so zum eigenen Ich? / Und denken nach, was wohl der Sinn der Weihnacht ist? / Kaufen, laufen Geld ausgeben, lustvoll essen… / Christi Geburt ist längst vergessen. / Wir sollten innehalten, einmal überdenken, / wie wir Liebe, Verständnis, Geborgenheit verschenken. / So hätte Weihnacht ihren wahren Sinn, / und für uns Christen wäre sie dann ein Gewinn!

Eure Ruth Geede

Foto: Firma Oetker als Retter in der Not: Die kleine Ursula wollte zu einer Kriegsweihnacht Vater und Onkel an der Front Kekse schicken, doch ihr felten die Zutaten. Gewitzt schrieb die Marjell an das bekannte Unternehmen. Kurz darauf kam ein Päckchen.   Bild: Dr. Oetker


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