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16.01.2010 / Verdis letzte Chance / Die Gewerkschaft muss Präsenz zeigen, sonst droht ihr der baldige Niedergang

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 02-10 vom 16. Januar 2010

Verdis letzte Chance
Die Gewerkschaft muss Präsenz zeigen, sonst droht ihr der baldige Niedergang

Im ersten Halbjahr soll die Wirtschaftskrise den Arbeitsmarkt erreichen. Das schwächt die Gewerkschaften, die 2010 neue Tarifverträge für rund neun Millionen Beschäftigte aushandeln müssen.

Dieser Tage haben die Tarifverhandlungen für den Öffentlichen Dienst begonnen. Die Gewerkschaft Verdi fordert eine Gehaltserhöhung von fünf Prozent und demonstriert Kampfbereitschaft. „Die Einkommensentwicklung im Öffentlichen Dienst ist - trotz steigender Belastung für die Beschäftigten - in den vergangenen zehn Jahren hinter der durchschnittlichen Entwicklung aller anderen Branchen zurückgeblieben“, so der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske.

Da Bund, Länder, Städte und Kommunen finanziell nicht in der Lage sind, diese Forderungen der Gewerkschaft zu erfüllen, bedeutet dies, dass Verdi entweder seine Forderungen zurückschraubt oder Streik droht. Offenbar setzt die Dienstleistungsgewerkschaft trotz Wirtschaftskrise bewusst auf Eskalation. Da der Öffentliche Dienst beispielsweise im Vergleich zur Industrie bisher nicht unter der Krise gelitten hat, kann Verdi anders als beispielsweise die IG Metall auftreten. Während IG-Metall-Chef Berthold Huber den Arbeitgebern bereits drei Monate vor Beginn der Tarifrunden in der Industrie eine Nullrunde für eine weitgehende Arbeitsplatzsicherung in Aussicht stellt, fährt Verdi schwere Geschütze auf. Die Gewerkschaft muss jede Möglichkeit nutzen, ihre Stärke in der Öffentlichkeit zu präsentieren und so neue Mitglieder zu werben, bevor die Arbeitslosigkeit auch ihre Mitglieder trifft. Wer arbeitslos wird, verlässt oft als erstes seine Gewerkschaft. Ohnehin verlassen zahlreiche Mitglieder die deutschen Gewerkschaften, da sie nicht mehr erkennen können, was sie für ihren Mitgliedsbeitrag, der ein Prozent des Bruttolohnes ausmacht, bekommen. Seit gut 20 Jahren leiden die Gewerkschaften unter diesem Aderlass. Waren 1991 noch 11,8 Millionen Arbeitnehmer unter dem Dach des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), der neben Verdi und der IG Metall sechs weitere große Einzelgewerkschaften angehören, organisiert, so waren es 2008 nur noch 6,3 Millionen, von denen ein Drittel bereits im Ruhestand ist. Vor allem der Nachwuchs habe nicht genügend zu einem Beitritt in die Gewerkschaft bewegt werden können. Seit Ende der 90er Jahre habe sich der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder, die zwischen 18 und 30 Jahre alt sind, von knapp 16 auf acht Prozent nahezu halbiert, so das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW). Hagen Lesch vom IW führt dies gegenüber der PAZ auch auf die strukturellen Veränderungen in der Arbeitswelt zurück. Das typische Gewerkschaftsmitglied, den männlichen vollzeitbeschäftigten Facharbeiter, gebe es immer weniger. Stück für Stück sei in den letzten Jahrzehnten die Bedeutung gewerkschaftlicher Mileus geschwunden. Mit dem Bedeutungsverlust der Montanindustrie und dem Entstehen neuer Berufsbilder wie im IT-Bereich, der Verbreitung kleinerer Betriebseinheiten, der Zunahme von Teilzeitarbeit und der Tendenz zur Individualisierung, die jedweder Form von Vereinen und Verbänden Nachwuchsprobleme beschert, sei den Gewerkschaften ihre historisch gewachsene Zielgruppe abhanden gekommen. Britta Rehder, Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln, weist darauf hin, dass die Gewerkschaften den Wandel zwar erkannt hätten, doch die großen Gewerkschaften seien ähnlich schwer zu manövrieren wie Großtanker. Doch beispielsweise der von Verdi begleitete Kita-Streik der Erzieherinnen habe gezeigt, dass zumindest Verdi offensiv versuche, neue Zielgruppen zu erschließen.

Wer nicht in jungen Jahren rekrutiert wird, wird meist kein Gewerkschaftsmitglied mehr. Deswegen müssen die Gewerkschaften auch für die Jugend präsent sein. Für Verdi ist das möglicherweise die letzte Chance, um Präsenz zu zeigen, denn die klammen Städte, Gemeinden und Kommunen werden in absehbarer Zeit aufgrund ihres Sparzwanges auch beim Personal im Öffentlichen Dienst sparen müssen.             Rebecca Bellano

Foto: Der Nachwuchs fehlt: Die gewerkschaftsnahen Milieus schrumpfen, und ganz billig ist die Mitgliedschaft auch nicht.

 

Zeitzeugen

Frank Bsirske – „Sozial ist, was Kaufkraft schafft“, behauptet der 1952 geborene Vorsitzende der Gewerkschaft Verdi, der seit 1987 den Grünen angehört, anlässlich der Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst. Diese Annahme ist eine Spitze gegen den Slogan von CDU und CSU, „Sozial ist, was Arbeit schafft“ und gibt jedenfalls der Haushaltssanierung nicht den höchsten Stellenwert.

Berthold Huber – „Unsere Mitglieder erwarten, dass wir vor allem ihre Arbeitsplätze sichern“, so der 59-jährige Vorsitzende der IG Metall. Er erwägt erstmals, genau wie die IG Bergbau, Chemie, Energie, ohne prozentuale Lohnforderung in die Tarifverhandlungen zu gehen. 2007 wurde Huber (seit 1991 in der SPD) Erster Vorsitzender. Er achtet darauf, die Gegenseite nicht zu überfordern. Doch seine Politik der flexiblen Tarifverträge sorgt für Unmut im linken Lager.

Michael Sommer – Der 59-jährige Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (seit 1981 SPD-Mitglied) kündigte in seiner Neujahrspressekonferenz „die gewerkschaftliche Gegenwehr gegen neoliberale Angriffe auf den Sozialstaat“ an. Besonders die Forderung von Mindestlöhnen fällt in Sommers Amtszeit, die im Mai ausläuft. Sommer will sich dann zur Wiederwahl stellen, doch hierüber sollen nicht alle Vorstände der im DGB vereinten Einzelgewerkschaften erfreut sein.

Wolfgang Schäuble – Angesichts der Haushaltslage habe der Staat keine Spielräume, so der Finanzminister. Der CDU-Politiker zeigte sich erschrocken über die Fünf-Prozent-Forderung von Verdi. So böte der „Öffentliche Dienst sichere Jobs. Das sollten die Gewerkschaften gerade in dieser Krise nicht unterschätzen.“

Thomas Böhle – Der Präsident der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände vermisst Augenmaß bei den Gewerkschaften: „Die kommunalen Haushalte sind extrem belastet.“ Forderungen, die die Kommunen und ihre Unternehmen rund 3,7 Milliarden Euro im Jahr kosten würden, seien nicht ohne Personalabbau und die Einschränkung öffentlicher Dienstleistungen zu finanzieren. „Beides wollen wir nicht“, so Böhle.


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