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30.01.10 / Ein Leben auf der Straße / Schon rund ein Viertel der Wohnungslosen sind Frauen – Die Dunkelziffer ist groß

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-10 vom 30. Januar 2010

Ein Leben auf der Straße
Schon rund ein Viertel der Wohnungslosen sind Frauen – Die Dunkelziffer ist groß

In dem harten Winter dieses Jahres fallen sie besonders auf, die Obdachlosen in ihrem notdürftigen Schutz gegen die Kälte. Wie schnell man in diese Situation geraten kann, zeigen Beispiele, die PAZ-Autorin Corinna Weinert vorstellt.

Die Kälte schneidet ins Gesicht, unentwegt fallen dicke Schneeflocken vom Himmel. Schon nach kurzer Zeit im Freien komplett durchgefroren, hat man das Verlangen, sich zu Hause in der Wärme einzuigeln. Was aber, wenn es kein Zuhause gibt, wenn die Wohnung auf der Straße liegt? Der Weg in die Obdachlosigkeit ist einsam und schnell. Kündigung, Mietschulden, Scheidung, Sucht – letztendlich der Verlust der Wohnung.

Im Personalausweis von Klaus Stötzer (Name von der Redaktion geändert) steht „ohne festen Wohnsitz“. Der ehemalige Metallfacharbeiter stammt aus Bottrop, kam „der Liebe wegen“ nach Hamburg, wie er sagt. Die ging irgendwann zu Ende, so wie sein Erspartes, mit dem sich der 42-Jährige, der von seiner Freundin vor die Tür gesetzt worden war, trotz Arbeitslosigkeit noch eine Weile über Wasser halten konnte. Heute kampiert er in einer Grünanlage oder unter einer Brücke am Alsterufer. Glücklicherweise hat er ein Igluzelt und ist „der Witterung beim ‚Platte machen‘ nicht so ausgeliefert“, meint er. „Platte machen“ heißt es im Jargon der Obdachlosen, wenn sie draußen übernachten. Mit Temperaturen von bis zu -15 Grad Celsius ist das derzeit alles andere als behaglich.

Die Stadt Hamburg stellt für die obdachlosen Menschen ganzjährig Schlafplätze in verschiedenen Wohnunterkünften zur Verfügung, rund 2500 Betroffene nutzen diese. Weitere Schlafstätten werden von Trägern der Freien Wohlfahrtspflege bereitgehalten. Im Winter gibt es auch noch das „Winternotprogramm“. „In der kalten Jahreszeit von November bis April werden rund 200 zusätzliche Schlafplätze angeboten. Bei Bedarf können wir diese auch kurzfristig aufstocken“, erklärt Rico Schmidt, der Pressesprecher der Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz.

„Die Zahl der Obdachlosen in Deutschland wird auf 227000 geschätzt, rund ein Viertel davon sind Frauen – und es werden mehr“, sagt Werena Rosenke von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V.

Für Katharina Heller (Name geändert) aus München endete das „normale“ Leben vor gut neun Monaten mit einem Klingeln an der Haustür: Gerichtsvollzieher und Möbelpacker kamen in ihre Wohnung. Die 49-Jährige hatte sie schon erwartet; seit Tagen standen Koffer und Taschen bereit im Flur. Dinge, die ihr wichtig sind, hatte sie bei einem Freund in Sicherheit gebracht – den Laptop, ein paar teure Kleider und Schmuck. Gefasst unterschrieb sie den Zwangsräumungsbescheid. Während die Möbelpacker in Windeseile sämtliche Zimmer leerten, ließ der Vermieter vom Schlüsseldienst vorsichtshalber noch das Schloss auswechseln. Der Gerichtsvollzieher drückte Katharina Heller zum Abschied die Hand, wünschte ihr alles Gute, dann forderte der Vermieter sie auf zu gehen. Zwölf Jahre lang lebte Katharina Heller in ihrer Wohnung, Tür an Tür mit Schönheitschirurgen und Zahnärzten. Schulden haben sie in den Ruin getrieben. Nachdem ihre Freundin aus dem gemeinsam geführten Geschäft ausgestiegen war, scheiterte auch noch die langjährige Beziehung mit dem Lebenspartner. Die laufenden Kredite konnte sie bald nicht mehr zahlen, musste das Geschäft aufgeben und Insolvenz anmelden. Erika Bender (Name geändert) fing an zu spielen, dann zu trinken – oder umgekehrt, sie weiß es nicht mehr. Jedes Mal, wenn die 52-Jährige denkt, sie habe die Sucht besiegt, legt die sich wieder wie eine Schlinge um ihren Hals. Sie wird stärker als jede andere Bindung in ihrem Leben. Die ehemalige Vertriebsmitarbeiterin, die aus Stuttgart stammt, belügt ihre Familie und ihre Freunde, leiht sich immer wieder Geld bei verschiedenen Personen. Durch die Sucht kann sie bald keiner geregelten Arbeit mehr nachgehen, Mietschulden häufen sich an und sie verliert ihre Wohnung. Im März 2008 steht sie auf der Straße, kennt keinen Menschen, an den sie sich wenden könnte, keinen Ort, an dem sie bleiben dürfte, und überlegt: „Will ich überhaupt noch weitermachen, oder ist es hier und heute vorbei?“

Betroffene Frauen leben voller Angst und Scham oft über lange Zeit unentdeckt. „Frauen versuchen ihre Obdachlosigkeit bis zuletzt zu vertuschen“, sagt Karin Kühn, die in Frankfurt am Main das „Zentrum für Frauen“ leitet. „Sie leben sehr viel häufiger in der so genannten verdeckten Wohnungslosigkeit als Männer; viele tauchen nie in der Statistik auf, weil sie bei Freunden Unterschlupf suchen. Oder sie gehen Zweckbeziehungen ein, die immer wieder auch mit sexueller Ausbeutung verbunden sind“, so die Sozialarbeiterin. Im Zentrum für Frauen sind mehrere Beratungs- und Hilfseinrichtungen der Diakonie zusammengeschlossen, um Frauen zu unterstützen. Eine davon ist der Tagestreff 17 Ost. Dort können wohnungslose Frauen kochen und essen, duschen, Wäsche waschen, Kleiderspenden erhalten, telefonieren und eine Postadresse einrichten. Die zwei Mitarbeiterinnen helfen bei der Suche einer Notunterkunft und einer Wohnung, und auch darüber hinaus werden die Frauen betreut. „Die Frauen haben teilweise massive psychische Auffälligkeiten und unbehandelte Erkrankungen, bei ihnen ist die Gefahr der Verwahrlosung besonders groß“, weiß Karin Kühn. Wenn die Frauen ärztliche Versorgung benötigen, werden sie anonym und unentgeltlich in der Ambulanz der Caritas versorgt. Eine bedenkliche Entwicklung spricht Werena Rosenke noch an: Der Anteil der jüngeren Obdachlosen steigt, zunehmend sind auch Jugendliche betroffen, die das Leben auf der Straße den Lebensumständen im Elternhaus vorziehen. „Angesichts der Wirtschaftskrise“, so meint sie, „wird Obdachlosigkeit bald kein marginales, sondern ein sehr zentrales Thema in Deutschland sein, sie kann jeden von uns treffen.“

Foto: Schutz für kurze Zeit: Obdachlose wärmen sich in der Frankfurter Kirche St. Katharinen auf.


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