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06.02.10 / »Wolfszeit« in Ostdeutschland / Ein Familienschicksal − Die fast vergessenen Opfer von Flucht und Vertreibung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 05-10 vom 06. Februar 2010

»Wolfszeit« in Ostdeutschland
Ein Familienschicksal − Die fast vergessenen Opfer von Flucht und Vertreibung

Am 12. Januar, vor nunmehr 65 Jahren, brach mit dem Großangriff der Sowjets eine Apokalypse über die deutsche Bevölkerung östlich der Oder herein. Das Drama endete schließlich mit der Vertreibung von 14. Millionen Deutschen. Besonders betroffen war die Provinz Ostpreußen. Klaus Wulff schildert das Schicksal einer Familie seines einstigen Heimatortes Fuchsberg nahe Königsberg, das beispielhaft für das unbeschreibliche Leid ist.

In dem 1000 Seelen zählenden Dorf Fuchsberg, etwa 22 Kilometer südöstlich Königsbergs gelegen, beginnt am 24. Januar 1945 die Flucht. Am Tag darauf macht sich die fünfköpfige Familie des mittelbäuerlichen Hofes Karl Bartsch bei strengem Frost und Schneefall auf den Weg. Der Ehemann, im Polenfeldzug wegen seiner schweren Verwundung aus der Wehrmacht entlassen, war schon im August 1944 erneut eingezogen worden und stand irgendwo an der Ostfront. Mit dem bereits hergerichteten und beladenen Pferdewagen verlässt die Jungbäuerin mit dem sieben Monate alten Säugling Siegfried, der vierjährigen Tochter Helga und den betagten Schwiegereltern den Hof. Jan, der Pole, kutschiert das überladene Gefährt. Das durchfahrene Dorf ist fast  menschenleer, als man es durch den noch freien „Hinterausgang“ nach Weißenstein, Richtung Frisches Haff verläßt. Obwohl der Wagen mit Teppichen dachartig abgedeckt ist, bietet diese Provisorium wenig Schutz bei -20 Grad Celsius Frost und Schneefall. Man kommt auf Feldwegen nur langsam vorwärts, denn die Hauptstraßen sind durch Trecks und das Militär verstopft.

Die Fahrtrichtung muss häufig gewechselt werden. Wertvolle Stunden gehen verloren. Bei Gollau, nach nur etwa 30 Kilometern, bahnen sich sowjetische Panzer rücksichtslos ihren Weg an dem kilometerlangen Treck vorbei. Die nachrückenden Einheiten hausen in bekannter Manier. Vergewaltigungen und Erschießungen nehmen auf der einstigen Reichsstraße 126 zwischen Golla und Mahnseld verheerende Ausmaße an. Die Geschundenen kommen überwiegend aus den Nachbarorten Fuchsbergs und man kennt sich teilweise. Der übriggebliebene verängstigte Rest wird zusammengetrieben und Richtung Osten in Marsch gesetzt. So bleibt auch der Fluchtwagen mit dem letzten Hab und Gut mit dem Polen Jan zurück. Für die fünfköpfige Familie beginnt ein fünf Wochen währender strapaziöser Fußmarsch durch tiefen Schnee und klirrende Kälte. Der viele hundert Köpfe zählende Elendszug bewegt sich auf Feldwegen. Das Marschieren hat System. Der Zug der alten Leute, Frauen und Kinder kommt nur mühsam vorwärts. Säugling Siegfried wird in Tücher verpackt zunächst abwechselnd von den Erwachsenen getragen. Doch nach Tagen des Marschierens ohne ausreichendes Essen lassen die Kräfte der beiden Alten nach. Jeder hat in dem Chaos mit sich selbst genug zu tun. So bemerkt man das Zurückbleiben des Großvaters nicht. Was ist mit ihm geschehen? Überlebende berichten von Erschießungen der entkräftet Zurückgebliebenen am Rande des Weges. Genickschuss? Man wird es nie erwahren.

Mit letzter Kraft ist Interburg erreicht. Doch der Säugling hat die wochenlangen Strapazen ohne Milch oder wärmende Mahlzeit nicht überstanden und stirbt. Er wird hinter einer Scheune mehr verscharrt als begraben. Mehr lässt der tiefgefrorene Boden nicht zu. Der nicht enden wollende Marsch geht weiter. Es bleibt keine Zeit zum Abschied oder zur Trauer. Hier geht es ums Überleben. Die Auswirkungen des Marsches zeigen sich immer deutlicher. Besonders alte Menschen bleiben erschöpft am Weges-rand zurück, der Kälte preisgegeben Endlich nach Wochen gelingt es der nunmehr auf drei Personen geschrumpften Familie, sich heimlich abzusetzen. Man beschließt, zurück nach Fuchsberg zu wandern, wo Wärme, Nahrung und Geborgenheit vermutet werden. Doch der Weg ist trotz frühlingshafter Temperaturen beschwerlich und gefahrvoll. Man wandert in der Dunkelheit, um vor Vergewaltigungen sicher zu sein. Mutter und Großmutter tragen die vierjährige entkräftete Helga hängemattenartig in einer Decke. Mehr als fünf bis zehn Kilometer täglich vermögen die völlig Erschöpften nicht zurückzulegen, zumal man Straßen meidet. Durch ein ausgedehntes Waldgebiet nähern sie sich voller Hoffnung dem Hof. Sie erstarren vor Schreck angesichts der Zerstörungen des gesamten Anwesens. Hier gibt es keine Herberge mehr. So wandern sie zu dem Nachbarhof Riemann, auf dem auch weitere zurückgekehrte Dorfbewohner Unterschlupf gefunden haben. An ein Sattessen ist nicht zu denken. Vielmehr müssen alle Erwachsenen täglich schwere Arbeit für die Russen verrichten. Die Scheunen sind noch voller Getreide und müssen abgedroschen werden. Oma Bartsch, völlig abgezehrt und ohne Überlebenswillen, stirbt entkräftet. Sie wird auf dem Friedhof in Fuchsberg beerdigt.

Im Frühjahr 1947, als die Scheunen in Fuchsberg und Umgebung leer sind, werden alle Deutschen in ein berüchtigtes Lager nahe Norkitten, bei Insterburg, transportiert. Die Arbeit auf einer Kolchose ist schwer. Der Arbeitstag hat zwölf Stunden und mehr. Beim Wachpersonal scheinen sich Sadisten zusammengefunden zu haben. Das Urteil der Überlebenden dazu ist einhellig. Es ist oft die Hölle. Wer körperlich in der Lage ist, flieht heimlich. Die junge Frau Bartsch verfällt zusehends, erkrankt an Typhus und stirbt. Helga, mittlerweile sechs Jahre alt, ist nun Vollwaise. In dieser „Wolfszeit“ ist niemand mehr da, der sich nun um sie kümmert. Sie setzt sich immer häufiger von den Erwachsenen ab. Sucht sie ihren Opa, den sie noch am Leben glaubt? Die Spur verliert sich.

Spätere Nachforschungen ergeben, dass im Dezember 1947 ein sechsjähriges blondes Mädchen verlaust und verdreckt in ein Krankenhaus von Insterburg eingeliefert worden ist. Das verstörte Wesen reagierte nicht auf Fragen und antwortet auch nicht. Die Augen starren stumpf ins Leere. Sprachschock. Am ersten Weihnachtstag stirbt das Mädel an Unterernährung. War es Helga? Aussehen und Alter treffen zu. Doch eine genaue Auskunft ist nicht mehr erhältlich, denn die restlichen überlebenden Dorfbewohner waren schon im Herbst 1947 in die spätere DDR abgeschoben worden. Ohne Helga. So bleibt Ungewissheit. Der Vater des Kindes hatte eine erneute schwere Verwundung und Gefangenschaft überstanden. Auf seine Recherchen über den Verbleib seiner Familie erhielt er die vorstehend geschilderte Nachricht. Fast erblindet und sich auf Krücken fortbewegend starb Karl Bartsch wenig später. zerbrochen an dem grausamen Schicksal, das seiner Frau, den beiden Kindern und seinen Eltern widerfuhr.

So endete eine sechsköpfige ostpreußische Familie − eine Familie unter Millionen. Wer überlebte, wurde unter demütigenden brutalen Umständen aus der Heimat vertrieben. Doch dort, wo ihre Flucht endete, empfing man sie nicht immer mit offenen Armen. Man bot ihnen keine Asylunterkunft mit Sozialhilfe. Den vielen geschändeten Frauen konnte keine Therapie geboten werden, die ihnen dazu verhalf, die grausamen Erlebnisse zu verarbeiten.


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