19.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
20.02.10 / »Die Umverteilung nimmt zu« / Gesundheitsexperte Jürgen Wasem erklärt die »Kopfpauschale« – Wettbewerb an der richtigen Stelle

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 07-10 vom 20. Februar 2010

»Die Umverteilung nimmt zu«
Gesundheitsexperte Jürgen Wasem erklärt die »Kopfpauschale« – Wettbewerb an der richtigen Stelle

Die Kopfpauschale im Gesundheitswesen sorgt für turbulente Stellungskämpfe, denn es geht um riesige Summen. Der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem erläutert im Interview mit Rebecca Bellano das Für und Wider dieses Konstrukts.

PAZ: Was sind die Vorteile einer für alle gleich hohen Gesundheitsprämie?

Jürgen Wasem: Die gesetzliche Krankenversicherung befindet sich seit langem in einer strukturellen Einnahmekrise: Die Löhne und Gehälter wachsen langsamer als das Inlandsprodukt, außerdem steigt die Zahl der Rentner, was nach den zahlreichen Rentenreformen auch zu geringeren Einnahmen führt. Die Pauschalprämie kann einen Beitrag zur Lösung dieser strukturellen Finanzprobleme leisten. Man könnte die Probleme aber auch anders lösen, und die Vorschläge der Anhänger der Bürgerversicherung sind prinzipiell ebenfalls dazu geeignet.

Zumindest in der Theorie kann ein System mit einkommensunabhängigen Beiträgen und Sozialausgleich über Steuern gerechter sein als das heutige System mit einkommensabhängigen Beiträgen. Denn heute gibt es eine ganze Reihe von Ungereimtheiten im Finanzierungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung.

Wettbewerb der Krankenkassen über Prämienunterschiede führt vermutlich auch zu sinnvolleren Ergebnissen als Wettbewerb über Beitragssätze, wie wir ihn vor 2009 hatten.

PAZ: Es heißt, die Kopfpauschale sei unsozial. Stimmt das?

Wasem: Ich sehe zwei Nachteile, die beide mit den Umverteilungswirkungen zusammenhängen. Die Kopfpauschale bewirkt zunächst einmal eine deutliche Umverteilung: Die Geringverdiener werden im ersten Schritt deutlich mehr belastet, die Besserverdienenden deutlich entlastet. Denn die für alle Versicherten gleiche Prämie ist logischerweise – weil sie ja dieselbe Summe Einnahmen wie die bisherigen Beiträge ergeben muss – irgendwo in der Mitte zwischen den heutigen Beiträgen der Geringverdiener und den heutigen Beiträgen der Gutverdiener angesiedelt.

Da die Geringverdiener dies nicht tragen können, braucht man einen Sozialausgleich aus Steuermitteln. Hier stellt sich zum einen die Frage, ob der tatsächlich so ausgestaltet ist, dass Mehrbelastungen für die Ärmeren weitgehend vermieden werden können. Zum anderen stellt sich die Frage nach seiner Verlässlichkeit im Zeitablauf. Denn aufgrund des medizinischen Fortschritts und der Alterung der Bevölkerung werden die Gesundheitsausgaben überproportional steigen – dann aber steigt auch der Bedarf nach Sozialausgleich stetig. Wird es der Gesundheitspolitik gelingen, diese Mittel verlässlich von den Finanzpolitikern zu bekommen?

PAZ: Woran sollte sich die Höhe der Kopfpauschale richten? Derzeit kursiert ein Betrag von 250 bis 300 Euro. Was für die Besserverdienenden eine Entlastung wäre und einen Steuerausgleich für Niedrigverdiener erfordern würde. Doch was ist mit der Mittelschicht?

Wasem: Zunächst einmal kann man davon ausgehen, dass die Pauschalprämien nicht mit einem Mal eingeführt wird – dafür sind die Umverteilungseffekte und die plötzlich benötigten Mittel für den Sozialausgleich viel zu groß. Wir werden also einen schrittweisen Übergang erleben. Wie hoch die Pauschalprämie ist, hängt also wesentlich davon ab, ob wir gedanklich am Anfang oder am Ende des Übergangszeitraumes sind.

Unklar ist gegenwärtig, ob die Arbeitgeber auf Dauer in einem solchen Modell Mittel zur Finanzierung der Leistungsausgaben zahlen sollen, oder ob die Mittel der Arbeitgeber für den Sozialausgleich gedacht sind. Gleiches gilt für den heutigen Bundeszuschuss, der sich dieses Jahr immerhin auf 15,7 Milliarden Euro belaufen wird.

Außerdem hängt die Höhe natürlich davon ab, welche und wie viele Menschen eigentlich die Beiträge zahlen sollen.

Von daher gibt es eine Vielzahl von Varianten, wie hoch die durchschnittliche Prämie, die eine Kasse erheben muss, um damit auszukommen, sein wird.

Stellen wir uns vor, alle Ausgaben der Krankenkassen müssten über die Prämie finanziert werden, weil die Mittel der Arbeitgeber und der Bundeszuschuss nur für den Sozialausgleich verwendet würden, und Beiträge würden nur von den erwachsenen Mitgliedern geleistet (das heißt, Kinder und beitragsfrei versicherte Ehegatten zahlen auch in Zukunft keine Beiträge). Dann läge die Prämie beim heutigen Niveau der Ausgaben etwa bei 290 Euro pro Monat und Mitglied.

Würden dagegen Arbeitgeber- und Bundeszuschuss-Mittel zur Finanzierung der Leistungsausgaben verwendet und für den Sozialausgleich kommt noch mal extra Steuergeld, dann läge die Prämie bei durchschnittlich etwas mehr als 140 Euro pro Monat. Die Verteilungswirkungen hängen daher ganz stark von der genauen Ausgestaltung ab.

PAZ: Halten Sie die Einführung einer Kopfpauschale für wirtschaftlich sinnvoll?

Wasem: Sie löst die beschriebenen positiven Effekte aus, hat aber die eben beschriebenen Nachteile. Ich selber bin schon seit mehreren Jahren für das niederländische Modell. Dort hat man die bisherigen gesetzlichen Krankenkassen zu Versicherungsvereinen gemacht, und die konkurrieren mit den bisherigen Privatkassen. Das ist also eine Bürgerversicherung mit privaten Krankenkassen, die über eine Mischung aus einkommensabhängigen Beiträgen und Kopfbeiträgen finanziert wird.

PAZ: Wie entwickelt sich bei der Kopfpauschale der Wettbewerb zwischen den Kassen?

Wasem: Die Krankenkassen unterscheiden sich – je nachdem wie viel Spielraum die Politik ihnen gibt beziehungsweise lässt – in Teilbereichen der Leistungen und der Organisation der Leistungserbringung, also Verträgen mit Ärzten und der Pharmaindustrie. Daraus ergeben sich Wahlmöglichkeiten für die Versicherten nicht nur beim Preis, durch die Unterschiede in der Prämie, sondern auch bei der Versorgung.

PAZ: Bedeutet der damit verbundene Ausgleich aus Steuermitteln für Niedrigverdiener nicht eine weitere Verkomplizierung des Steuerwesens?

Wasem: Es ist unbestritten, dass der Sozialausgleich zu mehr Bürokratie führt, nicht zu weniger.

PAZ: Bisher war die Kopfpauschale politisch nicht durchsetzbar. Welche Reformen halten Sie in jedem Falle für notwendig, um das Gesundheitswesen leistungsfähig und bezahlbar zu halten?

Wasem: Wir haben bisher nur von der Einnahmenseite gesprochen. Für die Frage der Leistungsfähigkeit und Finanzierbarkeit ist sie ohne Zweifel wichtig und ich denke, dass hier auch Schritte unternommen werden. Wir müssen uns aber auch die Ausgabenseite ansehen. Dies ist politisch und ethisch mindestens genau so heikel – geht es doch letztlich um die Frage: Wie viel ist uns als Gesellschaft die öffentlich organisierte Gesundheit wert?

Jürgen Wasem ist Professor für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs beim Bundesversicherungsamt.

Foto: Frustrierend: Medizinische Leistungen werden immer teurer.

 

Zeitzeugen

Philipp Rösler – Der 36-jährige Gesundheitsminister (FDP) will noch vor der nächsten Bundestagswahl die Einführung der Gesundheitsprämie, wie er das im Volksmund zur „Kopfpauschale“ mutierte Finanzierungssystem bezeichnet. Er knüpft sein eigenes Schicksal eng an die Prämie mit Sozialausgleich. Details zur Umsetzung hat er bisher nur wenige genannt.

 

Horst Seehofer – Der CSU-Chef bezeichnete die vom Gesundheitsminister angestrebte Gesundheitsprämie bereits als „völligen Nonsens“ und kündigte entschiedenen Widerstand an. Der Sozialausgleich würde den Staat 20 Milliarden Euro mehr kosten, „ohne die geringste Verbesserung“ der medizinischen Versorgung, rechnet Seehofer vor. Das sei der Bevölkerung nicht zu erklären.

 

Ulla Schmidt – Röslers Amtsvorgängerin drückte gegen großen Widerstand die Einführung des Gesundheitsfonds durch. Obwohl von Beginn an eine Unterfinanzierung erkennbar war, ging die SPD-Politikerin das Risiko ein, nahten doch Bundestagswahlen. Zwar verlor die SPD die Wahl und Schmidt somit ihr Amt als Gesundheitsministerin, doch da sie dem deutschen Gesundheitswesen in den acht Jahren ihrer Amtszeit ihren Stempel aufgedrückt hat, wird sie noch lange im Gespräch bleiben.

 

Reinhold Schulte – Der Vorsitzender des Verbandes der privaten Krankenversicherungen e. V. kämpfte zu Zeiten von Ulla Schmidt für den Fortbestand der privaten Kassen. Schmidt hätte diese gern abgeschafft und deren 8,6 Millionen Mitglieder mit in die zur Bürgerversicherung umgewandelten gesetzliche Krankenkasse einzahlen lassen. Deren Rückstellungen hätte sie ebenfalls „übernommen“.

 

Otto von Bismarck – Der deutsche Reichskanzler setzte sich 1883 über die Bedenken seiner Berater hinweg, als er die gesetzliche Krankenversicherungen einführte. „Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte“, gab er später zu. Nur so meinte er, soziale Unruhen abwenden und die Sozialdemokraten schwächen zu können.


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren