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20.02.10 / Der Bärlauchort / Ein literarisches Denkmal für ein ostpreußisches Dorf

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 07-10 vom 20. Februar 2010

Der Bärlauchort
Ein literarisches Denkmal für ein ostpreußisches Dorf

Kam man den Weg von Eszerienen herauf, in nordöstlicher Richtung und zweigte ab linkerhand vorüber am Roten Bruch, eine leichte Steigung hinan, so tat sich plötzlich der Wald auf, und hinter hügeligen Feldern tauchte oben auf der Kuppe eine Ansammlung von Höfen auf. Ineinandergeschachtelt lagen Schuppen, Ställe, Wohnhäuser um die sechs Hofplätze. In ihrer Mitte zog sich die Dorfstraße hin, kopfsteingepflastert und leicht abschüssig wie auf einem schief gehaltenen Handteller.“ So beginnt Klaus-Jürgen Liedtkes poetische Chronik des Dorfes Kermuschienen, betitelt „Die versunkene Welt – Ein ostpreußisches Dorf in Erzählungen der Leute“. Übersetzt lautet der aus dem Prussischen stammende Ortsname Kermuschienen „Bärlauchort“. Das Dorf im Kirchspiel Szabienen (Kreis Darkehmen) lag auf der höchsten Anhöhe einer hügeligen Landschaft, die einst zur preußisch-litauischen „Großen Wildnis“ gehörte, einer Landschaft mit Wäldern, Feldern und Seen.

Ursprünglich hatte Liedtke ein literarisches Portrait seines Großvaters mütterlicherseits schreiben wollen, der ein Heimatdichter und -forscher war. Auf der Suche nach Spuren griffen seine Recherchen jedoch immer weiter aus.

Schließlich entstand der Plan, eine umfassende literarische Darstellung des Lebens in diesem ostpreußischen Dorf zu verfassen, das aus acht Hofstellen bestand. Die Grundlage dafür konnte nur eine großangelegte Geschichte der Kermuschiener Besitzerfamilien sein. Mit unglaublicher Geduld und Akribie befragte Liedtke zu diesem Zweck zehn Jahre lang Zeitzeugen, wofür er einige weite Reisen unternahm, und sichtete Archivalien in deutschen und polnischen Archiven. Nachdem die vielen einzelnen Berichte und Fakten gleich Mosaiksteinen geordnet waren, schuf er daraus innerhalb von weiteren zehn Jahren unter Zuhilfenahmen von Rekonstruktionen eine in sich geschlossene, detailreiche Erzählung, bezogen auf den erinnerten Zeitraum vom Ersten Weltkrieg bis zur endgültigen Flucht 1944. Einbezogen sind gelegentlich die Orte der Gegend rings um die Angerapp, so die Kreisstadt Darkehmen, die Dörfer Eszerienen, Ballupönen, Jaggeln und wie sie alle heißen, sowie die adeligen Güter.

Wahrscheinlich wird man vergeblich nach einer Parallele für die literarische Form suchen, in der dieser liebevolle Nachruf auf eine untergegangene Welt abgefasst wurde, eine Form zwischen Chronik und Dichtung. Wie in einer Dokumentation werden alle Personen namentlich genannt. Es klingt darin ein Ton an, der immer wieder unmerklich übergeht in die Sprachmelodie der Menschen aus Kermuschienen. Man meint sie sprechen zu hören. Einigen von ihnen hat der Autor eine Stimme verliehen, indem er sie im niederdeutschen Dialekt dieser Landschaft selbst zu Wort kommen ließ, wobei er sicherlich auf Gehörtes zurückgriff. So treten die Angehörigen der einzelnen Familien bei verschiedenen Gelegenheiten immer wieder in Erscheinung: Wenn sie feierten und ihren Liebhabereien nachgingen, wenn sie in die Kreisstadt Darkehmen zum Markt fuhren, wenn sie heirateten und in einen anderen Ort zogen.

Im Mittelpunkt dieser grandiosen Komposition aber stehen die beiden Steinke-Höfe und ihre Besitzerfamilien. Besonders häufig ist das Ehepaar Franz und Emma Steinke, geb. Schettling, im Blickfeld. Die Jüngste ihrer vier Kinder, Waltraud, steuerte die beigegeben Fotos bei. Mitgeliefert wurden vom Autor außerdem ein „ostpreußisches Glossar“ und eine Zeittafel.

Von unschätzbarem Wert sind vor allem die Schilderungen der Gepflogenheiten und Bräuche. „Da war ein langausgezogener Tisch, und wie bei Hermann Pauluhns Hochzeit gab es zuerst gebratenen Hecht. Der Franz Steinke hat das Harmonium hinübergefahren, hat es mit dem Pferd gezogen, auf einer Schleef … ‚So nimm denn meine Hände‘ wurde immer zu Hochzeiten gespielt und gesungen oder die Lieder von Matthias Claudius.“

Heute findet man dort, wo Kermuschienens Höfe standen, nur noch überwachsene Mauerreste. 1947 wurden Ukrainer aus Podolien in dem verlassenen Dorf angesiedelt, das zum polnischen Teil Ostpreußens gehörte. 1974 wurde der abgelegene Ort aufgegeben, da er ohne Verkehrsanbindung und Stromversorgung geblieben war.         D. Jestrzemski

Klaus-Jürgen Liedtke: „Die versunkene Welt – Ein ostpreußisches Dorf in Erzählungen der Leute“, Eichborn, Frankfurt am Main, gebunden, 425 Seiten, 49 s/w Fotografien, 32 Euro


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