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13.03.10 / Gastkommentar: »Unzeitgemäße« Gedanken über den Patriotismus

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 10-10 vom 13. März 2010

Gastkommentar: »Unzeitgemäße« Gedanken über den Patriotismus
von Prof. Dr. Harald Seubert

Karl Jaspers, ein unverdächtiger Zeitzeuge, bemerkte in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg eine Heuchelei vieler Deutscher, die darin bestehe, dass sie keine Deutschen mehr sein wollten. Dies eröffnet den Weg auf moralisch höheres Gelände. Jaspers erkannte darin das Gegenteil von wirklicher Besinnung und Umkehr. Dagegen weist Thomas Mann am Ende seines Epochenromans „Doktor Faustus“ darauf hin, dass Deutschland und die Deutschen nach der Katastrophe von 1945 der göttlichen Gnade bedürften. Diese Dimension ist trotz einiger Ansätze (genannt sei Günter Rohrmosers Buch „Deutschlands Tragödie“) bis heute nicht realisiert worden.

Jene Heuchelei war keineswegs ein Übergangsphänomen. Sie fand in der großen Inquisition, die um 1968 die junge Generation gegenüber ihren Eltern veranstaltete, eine neue Form. Schuldig waren die anderen. Man befragte sich nicht selbst. Das Gewissen schwieg. Immerhin hat Jürgen Habermas, Vordenker der Frankfurter Schule, 20 Jahre später geschrieben: „Als Nachgeborene, die nicht wissen können, wie sie sich unter den Bedingungen der Diktatur verhalten hätten, tun wir gut daran, uns in der moralischen Bewertung von Handlungen und Unterlassungen während der NS-Zeit zurückzuhalten.“ Solche Mahnungen scheinen weitgehend verhallt zu sein.

Die Fronten brachen bekanntlich noch einmal während des Historikerstreits von 1987 auf: Es ging um nichts weniger als die Frage, ob auch die NS-Zeit und ihre Verbrechen historischer Erkenntnis unterzogen oder als ein Mythos festgeschrieben werden sollten. Entscheidend ist dabei wohlgemerkt nicht der Abgleich von Opferzahlen, es geht nicht um Relativierung des unstrittigen Verbrechenscharakters des NS-Regimes. Doch ohne Vergleiche ist keine Erkenntnis eines historischen Ereignisses möglich. Der Mythos bleibt der rationalen Erforschung entzogen.

Dies sind Ursachen dafür, weshalb ein – in den meisten Kulturnationen selbstverständliches – Einstehen für das eigene Land, seine Traditionen und Potenziale in Deutschland noch immer auf größte Blockaden stößt. Einstehen für Deutschland nach innen und außen wird heute auf den folgenden Feldern besonders akut:

1. Die Epochen der eigenen Geschichte und Geistesgeschichte sind in ihrem Eigenrecht zu begreifen und nicht aus der Arroganz der Nachlebenden. Jede Epoche ist, wie Herder sagt, wie eine Hieroglyphe Gottes auf seinem Gang durch die Zeit.

Deutsche Geschichte führt weder linear auf Hitler hin, noch ist sie eine mehr oder minder hilflose, tastende Vorgeschichte von Demokratie und „westernization“. Eine herausragende Bedeutung kommt dabei der eigenen Freiheitsgeschichte der „Teutschen Libertäten“ und des „gelinden Regimentes“ im Alten Reich zu. Sie zeigt das Profil einer föderalen Gleichgewichtsordnung, das Ideal der Einheit bei größtmöglicher Verschiedenheit.

Ein bleibendes Potenzial ist und bleibt auch die preußische Staatsidee: der Zusammenhang von Toleranz und Maß, von aufgeklärtem Geist und Religion. Selbst die DDR kam in den 80er Jahren auf jene Traditionen zurück. Dagegen sehen wir heute einen beliebigen, wurzellosen One-World-Illusionismus, der jungen Menschen keine Orientierung und keine Leitgestalten geben kann.

Aus dem Geist der preußischen Tradition formulierte der alte Immanuel Kant, dass Patriotismus und Universalismus untrennbar zusammengehörten, dass man nicht Weltbürger sein könne, ohne zuerst Bürger des eigenen Landes zu sein und seinen Nutzen nach Kräften zu befördern.

Geschichte kann nicht unmittelbar legitimieren. Sie gibt aber Maßstäbe und Normen, ohne die man auch den Forderungen des Tages nicht genügen kann.

2. Von orientierender Bedeutung ist auch die deutsche Sprache. Sie ist anschaulich und plastisch. Ihre Prägung durch Luthers Bibelübersetzung gab ihr die Nähe zum gesprochenen Wort. Martin Opitz, der schlesische Meister der Barock-Dichtung, fügte eine Geschmeidigkeit hinzu, die ihr Gleichberechtigung mit den romanischen Sprachen im Wettstreit als Dichtungs- und Literatursprache sichern sollte. Aus der Konkretion heraus fand sie tiefe Prägungen für Philosophie und Religion: Worte wie Grund und Ur-sache, oder „das Unvordenkliche“. In der Weimarer Klassik und der Romantik gewann sie eine virtuose Leichtigkeit, bei höchster expressiver Prägnanz. Man lese preußische Generalstabsberichte oder Reden Bismarcks, um zu sehen, wie virtuos die Sprache auch in Funktionseliten gehandhabt wurde.

Die Verschämtheit, mit der man die eigene Sprache übergeht – und dies nicht nur in EU-Behörden, sondern im eigenen Land – ist grotesk und für eine Kulturnation ohne Beispiel. Längst gebraucht man nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der akademischen Welt ohne Not ein künstliches Englisch, ein verdeckendes Plastik-Neusprech. Doch ebenso schwer wiegt die Simplifizierung, die Abschleifung dieser Sprache im öffentlichen Gebrauch.

3. Vor dem Hintergrund solcher fehlenden Achtung gegenüber der eigenen Kultur muss es nicht verwundern, wenn wir an zentralen Fragen der Gegenwart scheitern und wenn Politik zu einem geistlosen Umverteilungsmechanismus erstarrt. Die deutsche Einheit hat im nationalen Gedächtnis nicht den Ort, den sie haben müsste: War dies doch eine friedliche Revolution, nicht zuletzt aus christlichem Geist, die sich deutlich von der Blutspur abhebt, die die neuzeitlichen Revolutionen seit der Französischen spielen. Die Prägung des kommunistischen Systems ist noch immer viel deutlicher zu spüren als etwa in Polen.

Bedingungen von Zuwanderung und Integration sind auf dem schwankenden Grund fehlender Selbstachtung und -kenntnis nicht zu definieren, ebenso wenig wie nationale Interessen. Die Fragenkataloge und „Einbürgerungstests“ waren vor allem eine intellektuelle Bankrotterklärung derer, die sie entwarfen. Sie prüften die Bejahung einer permissiven, wertfreien Gesellschaft – weil sie nicht zu sagen wussten, was Deutsche Identität sei. Dasselbe Muster zeigt sich bei dem viel beschworenen „Sommermärchen“ der Fußball-WM 2006. So freundlich-heiter die deutschen Fähnchen – neben türkischen und italienischen – anmuten mögen, die Formel jenes Patriotismus war denkbar dünn.

Die globalisierte Welt am Beginn des 21. Jahrhunderts ist ein höchst unsicherer Ort. Die Antwort auf die grundlegende Frage, wie eine Ordnung der Freiheit zu stiften ist, hat sie nicht gefunden, ja sie sucht nicht einmal danach. Kurzfristigkeit, das Leben als Vabanquespiel – mit den de-

saströsen Folgen der Finanzkrise sind Ausdruck einer Wurzellosigkeit, einer grenzenlosen Emanzipation. Sie reduziert den Menschen auf einen – zunehmend unmündiger werdenden – Produzenten und Konsumenten. Höchster Maßstab aber ist Modernität, jener lineare Fortschritt, von dem Walter Benjamin einmal schrieb, auch wenn sich Trümmer und Leichenberge hinter ihm aufhäuften, treibe ihn ein Sturm weiter.

Einer geklärten Liebe zum eigenen Land, die sich auch dem Schmerz um seine Verfehlungen stellt und die frei von Fanatismus ist, ist in dieser Situation keine vorgestrige Position, sondern Teil einer zweiten, sittlichen Aufklärung, derer wir dringend bedürfen.

Der Autor (*1967) lehrt Philosophie an den Universitäten Posen und Bamberg.


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