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20.03.10 / Russki-Deutsch (59): Tschaika

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 11-10 vom 20. März 2010

Russki-Deutsch (59):
Tschaika
von Wolf Oschlies

Tschaika“ ist das russische Wort für „Möwe“, was uns Deutschen doppelt bekannt ist. Zum einen als Titel des Dramas, das Anton Tschechow 1895 verfasste. Rilke hat es 1900 übersetzt, obwohl er es langweilig fand: Ein wortreiches, handlungsarmes Stück um Lebensüberdruss und Liebesleid. Wie Möwen möchten die Dramenhelden fliegen, wie Felsbrocken haften sie am platten Boden.

Tschechows „Tschaika“ ist uns meist als übersetzte „Möwe“ ein Begriff. Das unterscheidet sie von der „Tschaika“, dem als „russischer Rolls Roys“ berühmt gewordenen Wagen, den der Russland-Deutsche Andrej Lipgart 1953 nach dem US-Auto „Packard Patrician“ konstruierte: ein wuchtiges, flossenbestücktes Luxus-Kabriolett, dessen Werbefotos mit Vorliebe vor Kremltürmen geschossen wurden. Rein äußerlich besaß die „Tschaika“ einen robusten Charme, technisch war sie ein Alptraum: Drei Tonnen Gesamtgewicht, 195 PS, 160 km/h Spitzengeschwindigkeit, Verbrauch 21 Liter auf 100 Kilometer. Aber sie machte etwas her und war deshalb der bevorzugte Wagen für Minister, Parteibosse, Bonzen.

Insgesamt wurden nur 3179 Stück produziert, 150 pro Jahr. Parteichef Chruschtschow verschenkte sie zum Beispiel an den Literatur-Nobelpreisträger Michail Scholochov, den Kosmonauten Jurij Gagarin, die Ballerina Galina Ulanova und – Fidel Castro. Ein Dutzend offene „Tschaikas“ wurde für das Verteidigungsministerium gebaut – für „Paradezwecke“. Dennoch kamen ungezählte Russen in den Genuss einer „Tschaika“-Fahrt: Abgeschriebene Fahrzeuge wurden den staatlichen „Hochzeitspalästen“ überlassen, um Brautpaare ein bisschen herum zu kutschieren – für ein Entgelt von 50 Rubeln, 1970 ein halber Monatslohn.

In den 1970er Jahren entstand eine leistungsfähigere Version der „Tschaika“, deren Luxus-Image Michail Gorbatschow beendete: zum 24. Dezember 1988 wurde die Produktion eingestellt. 1996 wollte das Werk in Nishny Nowgorod eine Neuauflage wagen, aber alle Konstruktionspläne waren vernichtet, alle technischen Dokumentationen zerschreddert, alle Produktionsbänder abgebaut. Aus dem Mythos „Tschaika“ war ein Phantom geworden – bekannt wie „Tin Lizzy“.


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