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27.03.10 / Viel Sozialismus im heutigen System / Der sächsische FDP-Vorsitzende Holger Zastrow über Sachsen, die DDR und die Vertriebenen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 12-10 vom 27. März 2010

Viel Sozialismus im heutigen System
Der sächsische FDP-Vorsitzende Holger Zastrow über Sachsen, die DDR und die Vertriebenen

Kurz nach Regierungsantritt entfachte der neue Außenminister Guido Westerwelle (FDP) eine Debatte um das geplante Vertriebenenzentrum und eine emotional geführte Kontroverse um Hartz IV. Auch in Sachsen ist die FDP seit etwa einem halben Jahr an der Regierung beteiligt. Felix Menzel sprach deshalb mit dem 41-jährigen sächsischen Partei- und Fraktionschef Holger Zastrow, dessen Familie aus Pommern stammt. PAZ: Herr Zastrow, was hatten Sie für Träume im Wendeherbst 1989? Holger Zastrow: Politik spielte für mich schon immer eine große Rolle. Aber wie bei den meisten im Osten beschränkte sich das politische Denken und Diskutieren doch sehr auf den engsten Freundeskreis und die Familie. Eine Mitgliedschaft in einer Partei kam für mich in der DDR nie in Frage. Deshalb war die friedliche Revolution für mich als damals 20-jährigen politischen Menschen wie eine Befreiung. Als sich die Chance bot, endlich etwas tun zu können, sich endlich wehren zu können, war für mich klar: Da mache ich mit. Es ging um die Freiheit. Und für diesen großen Traum wollte ich kämpfen. Ich war von Beginn an bei den Demonstrationen in Dresden dabei – auch am 3. Oktober 1989, als die Revolution noch nicht friedlich war und es am Hauptbahnhof zu schweren Zusammenstößen von Demonstranten, Stasi und Volkspolizei kam. Das hat mich geprägt. PAZ: Haben sich Ihre liberalen Hoffnungen erfüllt? Zastrow: Nicht alle. Ich hätte gerne mal die richtige soziale Marktwirtschaft kennengelernt. Viele West-Bürger ahnen gar nicht, wie viel DDR in der Bundesrepublik steckt und wie viel Sozialismus sich inzwischen wieder breit gemacht hat. Ich bin damals für Freiheit und neue Lebenschancen und gegen Kollektivismus und Gleichmacherei auf die Straße gegangen. Leider spielen marktwirtschaftliches Denken und das klare Bekenntnis zu Eigenverantwortung und Leistungsgerechtigkeit in unserem bürokratischen Umverteilungsstaat zunehmend eine untergeordnete Rolle. PAZ: Der Freistaat muss nach Ansicht Ihrer Regierungskoalition im Doppelhaushalt 2011/12 1,7 Milliarden Euro einsparen. Wen treffen die Kürzungen am härtesten? Wer profitiert langfristig? Zastrow: Unser Ziel ist, dass der Freistaat bis 2020 das modernste Bundesland Deutschlands wird. Wir wollen straffe Verwaltungsstrukturen und schnelle Entscheidungswege. Dafür trennen wir uns von all den Aufgaben, die ein Staat nicht unbedingt machen muss. Die dann vorhandenen Mittel werden wir effizienter einsetzen als bisher, für Bildung und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zum Beispiel. Und wir wollen eine neue Gründerstimmung entfachen. Sachsen soll die erste Adresse für Menschen werden, die sich nicht ins gemachte Nest setzen, sondern anpacken und etwas aus ihrem Leben machen wollen. Dazu muss Sachsen sich vom Westen emanzipieren. Wir haben nach der Wende die Strukturen der alten Bundesrepublik übernommen. Das war für den Moment auch richtig. Wir haben jedoch auch in Teilen bereits kranke, überbürokratisierte Strukturen und überzogene Standards eingeführt. Diese Strukturen sind aber für ein Land, das aufholen will, hinderlich. Deshalb müssen wir stärker eigene sächsische Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit finden, die enorme Leistungsbereitschaft und Flexibilität unserer Menschen besser nutzen und unseren Staat gründlich umbauen. PAZ: Ein Bereich, wo Einschnitte befürchtet werden, ist die Sozialpolitik. In Deutschland läuft derzeit eine von Ihrem Parteivorsitzenden angestoßene Debatte über Hartz IV. Was tut Ihre Partei, damit es über die vielen Worte hinaus auch zu Veränderungen kommt? Zastrow: So neu ist diese Debatte ja nicht. Der Sozialstaat muss Menschen helfen, die nichts für ihre missliche Lage können, zum Beispiel Kranken oder Leuten, die einen Schicksalsschlag erlitten haben. Da der Sozialstaat aber immer mehr ausufert, kommen die Erwerbstätigen nicht mehr vom Fleck, weil sie durch hohe Abgaben und Steuern belastet werden. Für mich ist es der Kernpunkt der Sozialpolitik, dass derjenige, der sich anstrengt und arbeitet, davon mehr haben muss als derjenige, der sich nicht anstrengt. Hartz IV ist eine Hilfe auf Zeit und eine Brücke zurück in ein normales Beschäftigungsverhältnis. Hartz IV kann keine Dauerlösung und kein Ersatz für ein Einkommen aus eigener Arbeitsleistung sein. PAZ: Bei all der Sparpolitik kann der Bürger schnell das Vertrauen in die Möglichkeiten der Parteien verlieren. Braucht es da nicht Gegenimpulse – etwa eine starke Identitätspolitik? Sie haben ein Sächsisches Nationalmuseum vorgeschlagen. Zastrow: Es wissen in Sachsen zum Beispiel ganz wenige, dass eine Million Vertriebene nach dem Krieg hier ihre Heimat gefunden haben. Ich finde es bedauerlich, dass unsere Geschichte nur wenig und zu unvollständig vermittelt wird. Das wollen wir mit dem Nationalmuseum ändern und vor allem Jugendlichen die spannende sächsische Geschichte in all ihren Facetten vermitteln. Sachsen war − nur als ein Aspekt − zu Zeiten der Industrialisierung zusammen mit dem Ruhrgebiet, dem Elsass und England an der Spitze Europas. Wir hatten tolle Erfinder und Tüftler, Ingenieure und Kulturschaffende. Horch, Audi, Villeroy & Boch, Odol, Melitta – alles sächsische Marken. Und wir waren bekannt für unsere Toleranz und zogen Menschen aus anderen Gegenden und Kulturen magisch an. Meine Heimatstadt Dresden wäre ohne die vielen italienischen Bauleute, die polnischen und russischen Künstler und Staatsbediensten niemals so schön geworden, wie es ist. Es ist sächsische Tradition, dass jemand, der sein Glück machen möchte, bei uns den richtigen Ort findet. PAZ: Gerade im Bereich der Symbolpolitik ist ihr Parteivorsitzender Guido Westerwelle in ein Fettnäpfchen getreten, als er aufgrund polnischer Bedenken die BdV-Chefin Erika Steinbach als Stiftungsratsmitglied des zu errichtenden Vertriebenenzentrums strikt ablehnte. Können Sie die Verstimmung bei vielen Vertriebenen-Familien nachvollziehen? Zastrow: Das kann ich verstehen. Der Schmerz bei denen, die den Verlust ihrer Heimat erlebt haben, sitzt natürlich tief. Auch ich habe starke Emotionen, wenn ich in die Gegend meiner Vorfahren fahre. Wenn ich nach Pommern, Danzig, West- und Ostpreußen komme, umgibt mich auch heute noch die Aura meiner Familie und Vorfahren, die dort Jahrhunderte gelebt haben. Dass Menschen, die die Vertreibung noch aus eigenem Erleben kennen, mit Unverständnis auf das, was der Außenminister gesagt hat, reagierten, kann ich nachvollziehen. Aber das, was Guido Westerwelle gewollt hat, war, eine Brücke in die Zukunft zu schlagen. Es werden immer weniger, aber es gibt bei einigen älteren Menschen in Polen noch Ängste. Auch wenn wir wissen, dass sie unbegründet sind, sollten wir sie respektieren. Das großartige Werk der Versöhnung, dem sich viele Vertriebene trotz und wegen ihres persönlichen Schicksals verschrieben haben, wird nicht kleiner, wenn wir Rücksicht nehmen. Das Vertriebenenzentrum wird für immer ganz eng mit dem Namen von Erika Steinbach verbunden sein. Wenn sie nun im Interesse der deutsch-polnischen Freundschaft Rücksicht nimmt, dann macht das ihr Lebenswerk sogar noch größer. PAZ: Es hat unlängst drei Austritte aus dem wissenschaftlichen Beraterkreis des Vertriebenenzentrums gegeben. Es bleibt also ein Politikum… Zastrow: Vielleicht ist es die Aufgabe für die jüngeren Generationen, jetzt mit dieser schwierigen Geschichte ungezwungener umzugehen. Wir haben den Abstand, den man dazu braucht. Wenn ich die alte Försterei meiner Großeltern in Hinterpommern besuche, kann ich das Geschehen – anders als die Erlebnisgeneration – mit der notwendigen Distanz betrachten. Ich habe im Gegensatz zur Generation meiner Eltern und Großeltern das Glück, in einem Europa zu leben, in dem Grenzen kaum noch eine Rolle spielen. Wir können uns frei bewegen und entscheiden, ob wir in Sachsen, in Brandenburg oder vielleicht sogar einmal in Ostpreußen oder Schlesien leben möchten. Die Zeiten haben sich geändert. Die vielen Vertriebenen haben ihr Schicksal als Lehre aus der Vergangenheit an die Jüngeren weitergeben und auch deshalb ist die „Auge um Auge, Zahn um Zahn“-Politik, die für so viel Leid gesorgt hat, vorbei. Stattdessen treffe ich in Polen genauso junge Leute wie mich, die Interesse für die Vergangenheit ihrer Familie und ihrer Region haben und die mit Respekt und Engagement die deutsche Zeit ihrer Heimat erforschen, hervorholen und betonen. Dass das heute so ist, ist das Großartige an der europäischen Idee.


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