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10.04.10 / Jeder für sich und doch gemeinsam / In einigen Schulen wird das jahrgangsübergreifende Lernen praktiziert − Stark für Schwache wie Begabte

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 14-10 vom 10. April 2010

Jeder für sich und doch gemeinsam
In einigen Schulen wird das jahrgangsübergreifende Lernen praktiziert − Stark für Schwache wie Begabte

Kinder der Klassenstufen 1 bis 4, die gemeinsam lernen? Das klingt nach einem weiteren pädagogischen Experiment vom Reißbrett der Theoretiker, doch ein Praxis-test überrascht.

Wie ein Häufchen Elend sitzt Amelie in der Runde. Die Kleine reibt ihre schweißnassen Handflächen gegeneinander und klemmt sie dann zwischen die Knie. Ihr Blick ist scheu gesenkt. „Nun Amelie, erzähl den anderen Kindern mal, woher du kommst“, fordert Klassenlehrerin Christiane Hüttmann das dunkelblonde Mädchen, das sich den Unterricht an der Johannes-Gutenberg-Schule in Bargteheide anschauen möchte, freundlich auf. 20 Kinderaugenpaare blicken ihre mögliche neue Klassenkameradin neugierig an, doch Amelie schweigt.

Weshalb die Kleine hier ist, hat sie in der Pause, als die anderen Kinder auf dem Schulhof waren, der Lehrerin ohne zu stocken erzählt. Zu Beginn der Mathestunde an ihrer jetzigen Schule lässt der Lehrer die Kinder aufstehen und stellt dann Rechenaufgaben. Wer die Lösung zuerst sagt, der darf sich setzen. Am Ende steht immer nur noch Amelie, die vor lauter Angst, als letzte übrigzubleiben, ein Durcheinander im Kopf hat. Dann lachen immer alle anderen Kinder. Das Ganze ist so schlimm, dass die Zweitklässlerin weg will. Die Klasse von Frau Hüttmann soll ihre Rettung sein, denn hier ist alles etwas anders, da hier jahrgangsübergreifendes Lernen (JÜL) praktiziert wird.

Doch das bedeutet nicht, dass die Kinder der verschiedenen Klassenstufen in dem Raum wie früher in Dorfschulen nach und nach unterrichtet werden, während die anderen Kinder sich still beschäftigen. Hier werden alle gemeinsam unterrichtet. Das ist vor allem möglich, weil es kaum noch klassischen Frontalunterricht gibt und die Kinder nicht mehr Buchstabe für Buchstabe lernen, sondern so schreiben, wie sie die Wörter hören. Nach und nach werden sie dann an die richtige Rechtschreibung herangeführt.

Nachdem Amelie vorgestellt wurde, gehen alle Kinder wieder an ihre Gruppentische. Derzeit sind die Klassenstufen 1 bis 3 in Frau Hüttmanns Klasse vereint, doch im nächsten Schuljahr bekommt die stellvertretende Schulleiterin noch sechs Schulanfänger dazu, so dass dann Kinder der 1. bis 4. Klasse zusammen unterrichtet werden.

Sofort machen sich die Kinder an die Arbeit, und Amelie wird von einer Drittklässlerin unter die Fittiche genommen. Diese erzählt der Jüngeren, dass die Klasse sich gerade mit Märchen beschäftigt und sie  dabei ist, fünf Fragen zu einem von ihr ausgewählten Märchen zu formulieren. Amelie bekommt das „Logbuch“ zu sehen, welches den Wochenplan jedes einzelnen Schülers enthält, in dem jeder für sich abhakt, wenn er etwas erledigt hat und ob er die Aufgabe „sehr gut“, „gut“, „durchschnittlich“ oder „schlecht“ erledigen konnte. Verwundert sieht Amelie ein Mädchen am Nebentisch Matheaufgaben lösen, während wiederum ein Erstklässler in sein Heft den Satz „Emma ist ser braf“ schreibt. Die ihm gegenübersitzende Charlotte kommt gerade von der Lehrerin zurück, die in einer Ecke am Fenster ihren Schreibtisch hat. In Charlottes Hand ist ein Zettel, auf den sie fünf Fragen zu Aschenputtel geschrieben und auf dem Frau Hüttmann die Fehler markiert hat. Jetzt muss das Mädchen die Fragen noch einmal sauber und vor allem richtig abschreiben.

Noch wirkt Amelie ein wenig überfordert. Ungläubig sieht sie, wie fast jedes Kind andere Aufgaben bearbeitet. Hin und wieder stehen einige Schüler auf, gehen zur Lehrerin oder zu einem anderen Gruppentisch und stellen Mitschülern Fragen oder holen sich ein Buch aus dem Regal hinten an der Wand. Ein Junge rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her, nimmt dann sein Heft und setzt sich auf eine der Bänke in der Mitte des Raumes, die genutzt werden, wenn die Klasse zu Beginn der Stunde zusammensitzt, um Organisatorisches zu besprechen. In anderer Sitzposition arbeitet er nun weiter und schreibt etwas in sein Heft. Derweil macht die Lehrerin ihre Runde, schaut den Kindern über die Schulter, weist auf Fehler hin, beantwortet Fragen. Lara träumt vor sich hin, doch da die Zweitklässlerin erkältet ist, gewährt ihr Christiane Hüttmann die Verschnaufpause. Zudem ist Lara gut im Plan, wie ein Blick in ihr „Logbuch“ zeigt, das die Kinder am Ende der Woche immer bei der Lehrerin abgeben müssen.

„Das heißt doch nicht der, die das Bunter“, klärt Lasse seinen Gruppentischnachbarn derweil auf. Der Erstklässler macht schon die Aufgaben der Zweitklässler und erzählt einem langsamen Drittklässler, dass man Adjektive klein schreibt. Drei der vier Jungen am Tisch verfassen eigene Märchen. Lasse schreibt über einen Delfin. Dann wird es etwas laut am Tisch, doch nach einem fragenden Blick von Frau Hüttmann setzt sich einer der Jungen an einen Einzeltisch.

Es wird emsig gearbeitet, nächste Woche werden Arbeiten geschrieben. Einige wollen schon gleich am Montag schreiben. Wobei: Jeder kann selbst entscheiden, an welchem Wochentag zu welcher Stunde er welches Fach schreiben will. Für Außenstehende klingt das wie völlige Anarchie, doch dank einer hochmotivierten, gut strukturierten Lehrerin, die sich durchsetzen kann, tanzt hier keiner aus der Reihe. Außerdem: Die knapp 15000 Einwohner zählende Stadt Bargteheide liegt im Speckgürtel von Hamburg, die meisten Kinder entstammen bürgerlichen Mittelschichtsfamilien. Einen Migrationshintergrund hat in dieser Klasse nur ein verschwindend geringer Teil der Schüler, alle sprechen einwandfrei Deutsch, und der Junge, der unter dem Aufmerksamkeitsdefizit (ADS) leidet, fällt hier kaum auf, da sich die Kinder frei bewegen können und nicht vom Platz aus konzentriert und still den Ausführungen des Lehrers lauschen müssen. Und auch Amelie fällt nicht auf. Ihre Schüchternheit gegenüber Gleichaltrigen hemmt nicht ihre Leistungen, da sie sich hier nur selten vor der gesamten Klasse äußern muss. Was aber nicht heißt, dass sie es nicht kann, so sie denn will.   Rebecca Bellano


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