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24.04.10 / Siegesfeiern als Identitätsstiftung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 16-10 vom 24. April 2010

Gastbeitrag
Siegesfeiern als Identitätsstiftung
von Prof. Dr. Menno Aden

In russischen Zeitungen finden sich derzeit vermehrt Artikel zum Sieg über die „Gitler“, dessen 65. Jahrestag am 9. Mai groß gefeiert werden soll. Der Sieg über Hitler hat sich von seinen historischen Zusammenhängen offenbar abgelöst und ist zum mystischen Angelpunkt nationaler Selbstbeschreibung der Siegerstaaten geworden. Der Philosoph und Politologe A. Zipko schreibt in der Wochenzeitschrift Argumenty i Fakty:  „Der Sieg vom 9. Mai ist von unausprechlich hohem nationalen Wert, die geistige Grundlage der Konsolidierung der russischen Gesellschaft.“

Das ist auch der Grund, weswegen jeder Siegerstaat den Zweiten Weltkrieg allein gewonnen zu haben scheint. Von einer  Beteiligung der USA und des Britischen  Empire am Siege ist in diesem Artikel nichts, in anderen russischen Beiträgen selten etwas zu lesen. Dasselbe Phänomen findet sich aber mutatis mutandis auch in England. Dieses hat durch seine Kriegserklärung an Deutschland (1939) die Lunte gezündet, die am Ende sein Empire zerplatzen ließ. Damit hat der  Krieg Großbritannien sogar von einem viel höheren Sockel gestoßen als Deutschland trotz  dessen totaler Zerstörung. 1939 war England noch eine scheinbar gefestigte  Weltmacht; nach dem Sieg, und nach  dem wesentlich dadurch verursachten Verlust Indiens im Jahre 1948, war es, entsprechend einer Vorhersage Churchills zum drittrangigen Staat abgestiegen. Was liegt da näher als sich dafür wenigstens für den wahrhaften Retter der Welt vor dem Monstrum Hitler zu halten?

In den USA weiß man allerdings ebenfalls, dass allein man selbst es war, der das Scheusal Hitler durch massive Waffenlieferungen an Großbritannien und die Sowjetunion und schließlich durch den „D-Day“, also die Invasion in der Normandie 1944 zur Strecke gebracht hat.

In Russland ist der SIEG (sonst wird ein Hauptwort klein geschrieben, hier aber wird der Sieg auch im Schriftbild groß) zusätzlich zum Prüfstein für die Beurteilung Stalins geworden. Nolens volens muss Stalin zur Siegesfeier irgendwie geehrt werden, die Frage ist nur wie. Der Bürgermeister Moskaus erklärte nun, Stalin sei der „Organisator der Niederwerfung Deutschlands“ gewesen. Der erwähnte Politologe Zipko sieht das etwas anderes: „Es muss die Wahrheit über den Krieg gesagt werden, was er war und was nicht …“

Er meint aber nicht,  was aus unserer Sicht vielleicht zu erwarten wäre, die Frage, ob Hitler im Juni 1941 einem Großangriff Stalins nur um wenige Wochen zuvorgekommen ist. Es werden aber von ihm die großen Fehler Stalins herausgestellt. Mit 27 Millionen Toten habe die sowjetische Seite etwa die Hälfte der Toten an allen Fronten aller Kriegführenden gehabt. Dieser hohe Preis (wobei übrigens die genannte Zahl nach heutigem Wissen weit übertrieben ist und Verluste in der Größenordnung von 11 Millionen Sowjetbürgern, darunter 8,7 Millionen Soldaten, der Wahrheit näher kommen dürften) des Sieges sei Stalins Schuld gewesen und es sei durchaus nicht zufällig, dass Stalin nach dem Krieg den Tag des Sieges nicht habe feiern lassen, zu seinem Ruhm habe es nichts zu sagen gegeben.

Damit sind die beiden Hauptmeinungen zu Stalins Rolle bezeichnet, die auch in Leserbriefen immer wieder geäußert werden. Dabei überwiegt, wie wohl zu erwarten, die positive Bewertung Stalins. Ein Kriegsveteran namens Iwan Konowalow schrieb etwa in derselben Zeitung: „Nun, 65 Jahre nach dem Sieg, finde ich es schlimm, wenn die Nachgeborenen Stalin kritisieren. ... Stalin war das Symbol für die Festigung der sowjetischen Gesellschaft angesichts der hitlerschen Bedrohung.“

Die nachhaltigsten Folgen des Zweiten Weltkrieges in Russland liegen vielleicht in der Verstärkung des ukrainischen Nationalbewusstseins. Anscheinend hat die kurze Zeit, in welcher die Ukraine schon im Ersten und dann wieder im Zweiten Weltkrieg von Deutschland besetzt war, viel dazu beigetragen, das ukrainische Nationalbewusstsein anzuregen. Es ist den Russen bis zum Ende der Sowjetzeit nicht gelungen, dies vergessen zu machen. Deutschland hätte dann, wenn auch hier ohne Absicht, Ähnliches bewirkt wie während des Ersten Weltkrieges in Belgien, wo wir Deutschen die Gleichberechtigung der bis dahin benachteiligten flämischen mit der französischen Sprache durchsetzten, die dann auch nach 1919 nicht mehr zurückgenommen werden konnte.

Das ukrainische Nationalbewusstsein, aus welchem 1990 erstmals in der Geschichte ein unabhängiger ukrainischer Staat wurde, ist eine nationale Herausforderung an die Russen, vielleicht vergleichbar mit den Schwierigkeiten vieler Deutschen nach 1871, erkennen zu müssen wie schwer sich das damals ganz überwiegend deutschsprachige Elsass damit tat, sich auch als deutsch zu empfinden. Straßburg war doch eine der Wiegen deutscher Kultur! Dass nun außerhalb Russlands liegende Kiew war und ist noch mehr als das, es ist die Wiege Russlands. Diese „Untreue“ eines als integraler Teil des Staates angesehenen russischen „Stammes“ stellt das heutige Russland vor die Frage, wie konsolidiert und sicher denn heute sein Gesamtstaat ist.

Der Zerfall der UdSSR ist innerlich   nach wie vor nicht verarbeitet. Russland hat zwar auch heute ein immenses Territorium und ist der flächenmäßig mit Abstand größte Staat der Erde. Aber auch hier schaut man nicht auf das, was man hat, sondern auf das, was man gerne wieder hätte. Das Russische Imperium hat  seit dem Höhepunkt seiner Ausdehnung unter den Zaren durch die große Wende 1990/91, also ohne Krieg, fast ein Viertel seines Gebietes und etwa ein Drittel seiner Bevölkerung verloren. Ehedem von schier unendlicher Volkskraft steht es jetzt fast in derselben Ordnung wie Deutschland, seine demographische Lage ist sogar eher noch schlechter als die der Deutschen. Damit hat Russland im Frieden an Fläche und Bevölkerung etwa ebenso viel verloren wie Deutschland durch den Krieg, wobei allerdings nicht außer Acht bleiben kann, dass die Verluste Deutschlands teilweise schon nach 1918 und jedenfalls nach 1945 altes deutsches Sprachgebiet betrafen, also an die „nationale Substanz“ gingen, während mit dem Zerfall der Sowjetunion mehr als ein Dutzend nichtrussische Nationen ihre Unabhängigkeit wiedergewannen - vom Baltikum über  den Südkaukasus bis nach Mittelasien. So oder so: Mit Stalin wäre das nicht passiert, argumentieren viele Russen. Und doch war dieser, wie auch hier eigentlich niemand bezweifelt, ein großer Verbrecher.

Fazit: Denj Pobjedy – der Tag des Sieges ist in Russland daher wohl weniger ein Tag, an welchem der SIEG gefeiert wird. Er ist eher ein Tag mystischer Selbstvergewisserung nationaler russischer Größe und auch der Wehmut. Stalin, der Welikij Woshd – wörtlich: der Große Führer! - zum Siege, wird wieder auf seinen Sockel treten, aber am folgenden Tage muss man ihn wieder herabstoßen. Stalin bleibt ein Punkt der inneren Uneinigkeit von Staat und Nation.

Es ist anzunehmen, dass die Siegesfeiern unserer anderen Besieger eine entsprechende Bedeutung haben – mit und ohne Anerkennung der eigenen Verbrechen vor und im Kriege. Mit dem Zweiten Weltkrieg selbst oder gar mit uns Deutschen hat das fast nichts mehr zu tun.


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