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24.04.10 / Die ostreußische Familie / Leser helfen Lesern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 16-10 vom 24. April 2010

Die ostreußische Familie
Leser helfen Lesern
von Ruth Geede

Lewe Landslied,     

liebe Familienfreunde,

es ist selten, dass ein einziger Bericht unsere Kolumne füllt, denn die vielen Zuschriften mit gänzlich unterschiedlichem Inhalt benötigen eben ihren Platz. Dazu kommt, dass die aktuellen Themen nicht lange warten dürfen. Heute jedoch müssen wir aber wieder eine Ausnahme machen, denn Herr Hartmut Priebe aus Gelsenkirchen fand im Nachlass seines Vaters eine alte Aufzeichnung, von der er meint, dass sie für unsere Leserinnen und Leser von Interesse sein könnte. Dieser Auffassung können wir nur zustimmen, denn die beiden mit Schreibmaschine beschriebenen Seiten erweisen sich als ein untrügliches Zeitbild von dem zerstörten Königsberg nach der Russenbesetzung. Aufgeschrieben nach Augenzeugenberichten am 9. April 1946 von einem unbekannten Verfasser, der wohl auch aus Königsberg stammte und vermutlich Mediziner war. Wie der Bericht in den Besitz von Willy Priebe, * 1902 in Königsberg, gekommen ist, weiß der Sohn nicht. Vielleicht gehörte dieser zu dem Kreis von Flüchtlingen, die sich im Frühjahr 1946 in Lübeck zusammen fanden, um über ihre Erlebnisse zu sprechen. Er könnte ihn aber auch später erhalten und ihn wegen seines dokumentarischen Inhaltes aufbewahrt haben. Das spielt aber keine Rolle, von Wichtigkeit ist allein, dass diese Aufzeichnungen unzerstört und unverfälscht erhalten blieben und somit als unbestechliche Zeitdokumente anzusehen sind.

Nun gibt es viele Berichte in Büchern und Schriften, auf Kassetten und CD, die ein Spiegelbild jener Zeit sind, zumeist aus eigenem Erleben niedergeschrieben sind und somit biographischen Charakter haben. Sie besitzen nicht nur einen dokumentarischen, sondern oft auch einen hohen literarischen Stellenwert. Den hat dieser Bericht nicht, denn er war lediglich als Aufzeichnung der Aussagen von Vertriebenen gedacht, kurz nach dem Verlassen der zerstörten Heimat und der Ankunft in dem damals in Zonen geteilten Deutschland. Es gab keine anderen Kommunikationsmöglichkeiten als das gesprochene oder aufgeschriebene Wort, deutsche Zeitungen erschienen noch nicht. Ein Brief mit Mitteilungen über den Heimatort und das Schicksal von Angehörigen oder Bekannten wurde an andere Landsleute weitergegeben, und wo man sich auch traf, waren die ersten Worte: „Wisst ihr etwas über …?“ So war auch diese Aufzeichnung als Information über die unbekannte Lage der Menschen in der verlassenen Heimat gedacht, die weitergegeben werden konnte. Deshalb sind auch die Angaben der Anfang des Jahres 1946 aus dem nördlichen Ostpreußen gekommenen Vertriebenen fast stichwortartig gehalten, die Aussagen kurz und knapp formuliert, um soviel Informatives wie möglich auf zwei Seiten bringen zu können – Papier war Mangelware!

So enthält der Bericht eine Fülle von Namen und Schicksalen, die auch heute noch unsere Landsleute interessieren werden, weil diese bisher lückenhaft waren oder noch nie so verdeutlicht wurden. Das ist eben das Besondere an dieser Aufzeichnung, die auch Herrn Priebe veranlasst haben, sie uns zu überlassen. Er schreibt: „Möglicherweise enthält dieser Bericht auch historisch verwertbare Details über Personen und Sachverhalte, die für ein zuständiges zentrales Archiv von Interesse sind.“ Aber eben nicht nur für die Archive, sondern vor allem für viele Vertriebene aus Ostpreußen.

Ich habe diesen Bericht nicht redigiert noch irgendwelche Veränderungen oder Ergänzungen vorgenommen, weil sonst seine Authentizität verletzt werden könnte. Und deshalb gebe ich ihn so weiter, wie er am 9. April 1948 in Lübeck von unbekannt aufgeschrieben wurde:

„Von Eydtkuhnen bis Königsberg soll die Bahn bereits auf russischer Spur laufen. Die Bahn läuft bis Elbing sonst wie vor. Alle Nebenbahnen wie Labiauer, Königsberg–Allenstein, Königsberg–Bartenstein, Königsberg–Gerdauen wie die Bahn nach Rauschen existieren nicht mehr. Die Bahnhöfe auf den benutzten russischen Strecken tragen russische Namen. Ab und zu sieht man in der Stadt organisierte Wasserwagen, vor die 30 bis 40 Menschen gespannt sind, um Wasser aus dem Schlossteich zu holen. Von den Häusern in Königsberg soll fast alles vernichtet sein. Hin und wieder steht noch ein Haus wie in der Königstraße/Königseck.

Eine Cousine des Berichterstatters war in Rauschen, wo es nicht mehr zum Aushalten war. Sie ist nach einer abenteuerlichen Flucht in Berlin eingetroffen. Ihre Mutter, Frau des verstorbenen Prof. Hilbert, wurde mit ihr aus der Villa vertrieben und starb an Hungertyphus in einer kleinen Bude am Carlsberg. Sie hat ihre Mutter eigenhändig beerdigen müssen. Die Villa wurde restlos ausgeplündert. Kreisleiter Wagner ist aufgehängt. Der Volkssturm hat bis zum letzten Blutstropfen gekämpft. 80 Prozent sind gefallen, darunter Oberbürgermeister Will, Hafendirektor Berenda, Oberbaurat Müller, 50 Jahre alt, Stadtamtmann Eberhard, 60 Jahre alt und so weiter. Ein Teil des Volkssturmes hatte sich unter Leitung des Stellvertretenden Gauleiters Groscher – Koch hatte sich ja in Sicherheit gebracht – in das Polizeipräsidium zurückgezogen und ist dort in die Luft gesprengt worden. 36-stündiges Artillerie-Bombardement, Vororte fast restlos vernichtet bis auf Juditten, da wohnen Russen. Der Mob hat neun Tage lang geplündert. 200000 Menschen sind noch in Königsberg zurück geblieben, täglich sterben 3000 bis 4000. Brot für Arbeiter 400 Gramm, für andere 200 Gramm. Alles andere muss man sich selber besorgen.

Von den Krankenhäusern arbeiten wieder das Krankenhaus der Barmherzigkeit, das Städtische Krankenhaus an der Pillauer Landstraße und das Katharinen-Krankenhaus, Leitung Prof. Starlinger, Böllner und Erhardt. Das städtische Krankenhaus sowie die Barmherzigkeit sind jetzt das Central-Krankenhaus. Bei der Zusammenlegung der Krankenhäuser mussten die Schwestern die Kranken auf dem Rücken tragen. Dr. Frick, Hoffmann und Kunze sind auch noch in Königsberg, Prof. Joachim hat sich erschossen. Prof. Unterberger, Dr. Gauer und Teichert sowie Frau Dr. Kunkel haben sich vergiftet. Pfarrer Richter ist bis zum Juni in Königsberg geblieben, er musste die Leichen selber beerdigen.

Karl Leibinnes, Mitinhaber von Gustav Scherwitz, schreibt unterm 9. November 1945, dass in Königsberg Seuchen ausgebrochen sind, die viele Menschen dahinraffen. Weitere Selbstmorde: Prof. Bonn, Rechtsanwalt Kaschade, Oberstaatsanwalt Lü­dicke – einige wenige aus der großen Zahl. Der Apothekenbesitzer der Kronen-Apotheke auf dem Rossgarten hat Königsberg erst am 2. November verlassen und die obigen Angaben bestätigt. Er wurde nach der Besetzung mit allen Männern durch die Sammellager ins Samland verschleppt und dann in dem Ambulatorium Kalthof eingesetzt. Er schätzt die Zahl der Sterbenden täglich auf 4000 bis 5000. Ein anderer Leidensgefährte erzählt, als er im Krankenhaus war, starben in 24 Stunden zehn bis 15 Menschen. Man könnte also in ganz Königsberg überall eine Null anhängen. Beim letzten Brotmarkenempfang haben sich noch 30000 gemeldet, beim vorletzten 40000.

Von Ärzten haben sich niedergelassen: Dr. Siegfried in Rostock, Dr. Riebes in Wismar, Dr. Wold in Wismar, Frau Dr. Skibba in Kleichendorf/Holstein. Frau Dr. Riesinger in Stolp. Von Dr. Bülow und Dr. Weissenberg, die auch in Königsberg geblieben sind, ist bisher nichts zu hören gewesen. Ihre Frauen warten bisher vergeblich auf sie in Gera beziehungsweise Lübeck, Frau Dr. Piontek ist in Ruhpolding, Café Forsthaus bei Schiffmann. Ehemalige Königsberger Rechtsanwälte jetzt: Dr. Nölsch in Berlin, Dr. Stabgrau in Berlin, Dr. Roquette in Erlangen, Dr. Fünfstück in Holstein, Dr. Rogalski in Hamburg, Dr. Senden in Hildesheim, Dr. Rudat in Eckernförde. Caillee von der Firma Caillee und Lebelt, der mit Dr. Riedinger noch in das KZ Sangerhausen kam, weil er mit Goerdeler mal einen Stammtisch gehabt hatte, ist jetzt in einer Färberei in Mecklenburg tätig. Todtenhöfer ist in Weißenfels und hat dort ein neues Geschäft eröffnet. Die obere Luisenallee-Beckstraße steht noch, in der Boyenstraße ist ein deutsch-russisches Ambulatorium errichtet. Ärzte in dieser Straße sind Dr. Paulini, Dr. Bukow, Zahnarzt Dr. Köhler, Frau Dr. Thiel und Dr. Braun. Prof. Weber ist in Wahnsinn verfallen.

Anfang Oktober waren in der Stadt noch 54000 Deutsche und doppelt soviel Russen. In der Dieffenbachstraße, Zeppelinstraße, Kraussallee und in der Mädchengewerbeschule wohnen Russen. Die meisten Deutschen leben in Ponarth, Liep und Charlottenburg. Letzter Vorort ist eine Siedlung hinter den Wasserwerken auf den früheren Vorderhufen. Kein Wasser, kein Gas, kein Licht. So leben die Menschen in den Kellern zerstörter Häuser, überall, wo noch ein Keller steht, hausen sie. Am 10. März 1945 wurden durch Phosphor-Kommandos eine Reihe von Straßen in Brand gesteckt. Vom Postscheck­amt bis zur Hufenallee und Walterstraße ist ein Bretterzaun errichtet, hier wohnen Russen.

Alle Kinos, Parkhotel, Schauspielhaus, Tiergarten, Postscheck­amt, Hauptbahnhof, Arbeitsamt, Poliklinik, Stadthaus und die ganze Kneiphofinsel sowie Königstraße, Rossgarten und Münchenhof sind dahin. Vom Nordbahnhof – der Platz heißt jetzt Stalinplatz – bis zum Hauptbahnhof steht ein ganzes Haus. Auf dem Kaiser-Wilhelm-Platz steht noch das Denkmal. Das Messegelände am Nordbahnhof ist dem Erdboden gleichgemacht. Hier sah man arbeitende Frauen, die ihre kleinen Kinder bei sich hatten. Von Männern keine Spur. Die Kleinen haben alle dicke Köpfe und Bäuche, dünne Arme und Beine – ein trostloser Anblick. Wasser ist auf den Hufen nur aus den Zwillingsteichen und dem Hammerteich zu haben. Kartoffeln gab es den ganzen Sommer über nicht. Das Land ist so gut wie tot, im Osten des Kreises Königsberg sind schon Kollektiv-Wirtschaften errichtet. Auf weite Strecken Ackerland stand das Land noch auf dem Halm, viele Ortschaften sind unbewohnt.

Soweit der Bericht, der von einem der Zehntausende stammt, die jetzt in Lübeck wohnen und jeden Mittwoch dort zusammenkommen, um von ihren Erlebnissen zu berichten. Eine Ostpreußin erhielt eine Nachricht aus ihrem Heimatdorf, dass eine Bekannte von ihr mit 3500 Landsleuten nach dem Ural verschleppt wurde. Dorthin sind sie mit Viehwaggons gebracht worden, und infolge der grimmigen Kälte bis -50 Grad sind unterwegs viele gestorben, auch selbst noch nach der Ankunft. Vor einiger Zeit wurden die zirka 200 Kranken und 100 Sterbenden zurückgeschickt, und eine davon ist nach Lübeck gekommen. 200 Gesunde sind noch dort geblieben im Ural, die übrigen 3000 sind gestorben. So ist das Schicksal von vielen unserer Heimatgenossen.“

Nachsatz: Dieser Bericht ist in seiner Kürze und Prägnanz erschütternd. Für uns alle, die wir diese Zeit erlebt haben, und besonders für diejenigen, die damals wie die Befragten in Königsberg verblieben und das hier Dokumentierte so oder ähnlich bestätigen können. Er ist wichtig für alle Leser, auch oder gerade für die Jüngeren, weil sie hier ein unbestechliches Zeitbild finden, an dem nicht ein Wort geändert wurde! Wir danken Herrn Hartmut Priebe sehr für die Überlassung dieses Berichts eines Unbekannten, der wohl nie gedacht hat, dass nach 64 Jahren seine Aufzeichnungen so hoch gewichtet werden.

Eure Ruth Geede


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