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15.05.10 / Anfangs als grober Unfug abgetan / Berliner Straßenszenen und Schweizer Bergwelt – Ernst Ludwig Kirchner ist im Städel Museum eine große Werkschau gewidmet

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 19-10 vom 15. Mai 2010

Anfangs als grober Unfug abgetan
Berliner Straßenszenen und Schweizer Bergwelt – Ernst Ludwig Kirchner ist im Städel Museum eine große Werkschau gewidmet

Längst gilt Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) wegen seiner expressionistischen Werke als einer der bedeutendsten deutschen Künstler des 20. Jahrhunderts. Doch am Anfang seiner Karriere wurden seine den gängigen Schönheitsmaßstäben zuwiderlaufenden Bilder als grober Unfug abgetan. Die Rezensenten bezeichneten sie als „fratzenhafte Verzerrungen“, „Farbenirrsinn“ und „grotesken Scherz“.

Von solchen Einschätzungen ließ sich das Frankfurter Städel Museum nicht beirren. Es war nach dem Ersten Weltkrieg eines der ersten öffentlichen Institute, das Werke Kirchners in die Sammlung aufnahm. Heute hat es eine der weltweit wichtigsten Kollektionen der Werke des Künstlers. Um hochkarätige internationale Leihgaben bereichert, bieten sie die mit 180 Gemälden und Grafiken umfangreichste Retrospektive Kirchners seit 30 Jahren.

Erster Höhepunkt sind die in den Dresdener Jahren geschaffenen Aktdarstellungen. Sie entstanden in der Sommerfrische an den Moritzburger Teichen und in Kirchners Atelierwohnung, in der er gemeinsam mit seinen Mitstreitern der Künstlergemeinschaft „Brücke“ unkonventionelle Arbeitsmethoden entwickelte. Nicole Brandmüller vom Ausstellungsteam bezeichnet Kirchners Atelier als eine Art „Sextempel“. Und Kurator Felix Krämer führt aus: „Nackte Frauen aus Holz dienten als Sitzgelegenheit, Ofenkacheln, Gardinen und Wandbehänge zeigten kopulierende Paare in allen erdenklichen Stellungen.“

Vor einem derartigen Wandbehang posiert Kirchners damalige Freundin Doris Große, genannt Dodo, im grandiosen Gemälde „Stehender Akt mit Hut“ (1910/20). Die bis auf den Schmuck, die roten Schuhe und den ausladenden schwarzen Hut offenherzig nackte Dodo gehört wie auch Lucas Cranachs (1472–1553) Aktgemälde der „Venus“, das Kirchner als Anregung diente, zu den größten Schätz(ch)en des Städel Museums.

Im Jahr 1911 ließ sich Kirchner in Berlin nieder. Vielen gilt die nun einsetzende Werkphase als Höhepunkt seines Schaffens. Kirchners neue Lebensgefährtin, die Tänzerin Erna Schilling, wird zu seinem bevorzugten Modell. Zusammen mit ihrer Schwester Gerda ist sie auf dem mit fünf überlebensgroßen Aktfiguren ausgestatteten Triptychon „Badende Frauen“ (1915/25) zu bewundern. Die drei unterschiedlichen Sammlungen angehörenden Leinwände sind erstmals seit 1933 gemeinsam ausgestellt. Die linke und die rechte Leinwand sind beidseitig bemalt, was übrigens bei Kirchner oft vorkam. Typisch ist auch die Jahre später erfolgte malerische Überarbeitung. Herzstück der Schau sind die in einzigartiger Fülle ausgestellten Berliner Straßenszenen. Sie zeigen Kokotten, die „unauffällig“ Kontakt mit potenziellen Freiern aufnehmen, um diese nicht zu kompromittieren.

Auf dem Gemälde „Die Straße“ (1913) blickt eine der beiden Frauen zu einem Mann hinüber, der sich demonstrativ Schaufensterauslagen zuwendet – aber durch die Spiegelung im Schaufenster sehr wohl Notiz von den Kokotten nimmt. Im Gemälde „Zwei Frauen auf der Straße“ (1914) werden die Betrachter des Bildes zu Adressaten der Avancen: Die Prostituierten streichen hautnah an uns vorüber.

Die Aussicht, als Soldat am Ersten Weltkrieg teilnehmen zu müssen, führte bei dem unter Alkohol- und Nikotinsucht sowie Morphiumabhängigkeit leidenden Kirchner zum Zusammenbruch. Es folgten mehrere Aufenthalte in Sanatorien. In dieser Zeit malte er das eindrückliche „Bad des Kranken“ (1917/20), auf dem ein Pfleger einen hilflosen Patienten behutsam in eine Badewanne hebt.

Nach einem Sanatoriumsaufenthalt 1917 in der Schweiz beschloss Kirchner, sich in der Bergwelt bei Davos niederzulassen. Dort malte er Gebirgsmotive, zu deren Glanzstücken das ins Märchenhafte entrückte, von Riesenschmetterlingen besuchte „Rote Alphaus“ (1919) gehört.

Weniger Zuspruch findet hingegen bis heute sein Mitte der 1920er Jahre einsetzender „neuer Stil“. Die geometrisch abstrahierten Figuren und die großen einfarbigen Flächen in zuweilen dissonanten Rosa-, Braun- und Lavendeltönen fügen sich zu arg gesuchten und ausgeklügelten Kompositionen.

Die letzten Lebensjahre Kirchners waren von der Angst vor den Nationalsozialisten überschattet. Obwohl er sich selbst als deutschen Künstler in der Nachfolge Dürers sah, wurden seine zahlreich in Museumsbesitz befindlichen Werke als „entartet“ beschlagnahmt. Da Kirchner befürchtete, die Nazis würden die Schweiz besetzen, beging er 1938 Selbstmord. Seine Lebensgefährtin Erna berichtete, auf der Staffelei habe das nun in Frankfurt ausgestellte Gemälde „Schafherde“ (1938) gestanden. Veit-M. Thiede

Die Ausstellung im Frankfurter Städel Museum, Holbeinstraße 1 ist bis zum 25. Juli dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr, mittwochs und donnerstags bis 21 Uhr zu sehen, der Katalog aus dem Hatje Cantz Verlag kostet im Museum 39,90 Euro, im Buchhandel 49,80 Euro.


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