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22.05.10 / Der CDU um drei Generationen voraus / Peter Reichensperger gehörte zu den Mitgründern der Zentrumspartei – Sozial engagiert und auch sonst seiner Zeit weit voraus

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 20-10 vom 22. Mai 2010

Der CDU um drei Generationen voraus
Peter Reichensperger gehörte zu den Mitgründern der Zentrumspartei – Sozial engagiert und auch sonst seiner Zeit weit voraus

Einsichtige erkennen, dass die Vereinigung der Rheinlande mit der preußischen Monarchie eine wahrhaft providentielle (vom Schicksal vorherbestimmte) gewesen, und dass die dringendsten Lebensinteressen Deutschlands hieran geknüpft waren …“ Es mag erstaunen, aber diese – 1847 in einem Zeitungsartikel vertretene – Auffassung stammt von einem gebürtigen Rheinländer. Es handelt sich um Peter Rei­chens­perger, der dann vor allem in den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts einer der profiliertesten katholischen Politiker Preußens werden sollte.

Geboren wurde er am 28. Mai 1810 in Koblenz. Zu dieser Zeit gehörte die 1794 von Revolutionstruppen eroberte Stadt formal zu Frankreich. Erst mit dem Wiener Kongress von 1814/15 kamen die rheinischen Gebiete des ehemaligen Trierer Kurstaates, und damit auch Koblenz, zu Preußen.

Rei­chens­perger hatte eine breit angelegte Ausbildung durchlaufen und sich insbesondere der Rechtswissenschaft und der Nationalökonomie gewidmet. Tätig war er als Jurist, zuletzt von 1859 bis 1879 als Obertribunalsrat in Berlin. Vor allem aber war er Parlamentarier: Er wirkte im sogenannten Vorparlament des Jahres 1848, war Mitglied der Preußischen Nationalversammlung und gehörte von 1849 bis zu seinem Tode 1892 nahezu ununterbrochen der Preußischen Zweiten Kammer beziehungsweise dem Preußischen Abgeordnetenhaus an. Zudem war er ab 1867 Mitglied des Norddeutschen respektive ab 1871 des Deutschen Reichstages.

Die Vertretung der Interessen der Katholiken – in Preußen sowie im Deutschen Reich gegen­über den Protestanten immer in der Minderheit – war ein wichtiger Aspekt im Wirken Reichens­pergers. So hatte er maßgeblichen Anteil an der Gründung der „Katholischen Fraktion“ im November 1852 als Reaktion auf die „Raumerschen Erlasse“, welche Rechte von Katholiken einschränkten. Reichensperger war zeitweise der Hauptredner dieser Fraktion, die später den Namen „Zentrum“ führte. Wichtiger Anstoß für die endgültige Formierung dieser zwischenzeitlich zerfallenen Gruppierung, die dann als Partei im Kaiserreich und der Weimarer Republik eine bedeutende Rolle spielte, war der von ihm formulierte, im Juni 1870 veröffentlichte Wahlaufruf.

Andererseits kämpfte der katholische Politiker Peter Reichensperger Zeit seines parlamentarischen Wirkens dagegen an, von anderen in die „ultramontane Ecke“ gedrängt zu werden. Im Kulturkampf setzte er sich deutlich gegen Vorwürfe der potenziellen Verfassungsuntreue von Katholiken zur Wehr. Reichensperger verstand sich in erster Linie als Preuße. Mehrfach hatte er versucht, seine Fraktion mehr auf die von ihm vertretenen konstitutionell-monarchistischen und sozialpolitischen Ideen zu lenken und nicht so stark auf dem „Katholischen“ zu insistieren, sondern eher christliche Gemeinsamkeiten zu betonen und sich auch gegenüber Protestanten zu öffnen. Insofern kann er also durchaus als Vorgänger der Christdemokraten betrachtet werden. Dem Ganzen war damals jedoch wenig Erfolg beschieden, allein die Befreiung vom Namen „Katholische Fraktion“ gelang erst spät. Bis 1933 ist das Zentrum praktisch eine katholische Partei geblieben.

Insgesamt hatte Reichensperger mit seinen Positionen in den eigenen Reihen oft einen schweren Stand. Zu nahezu allen wesentlichen Problemen seiner Zeit nahm der mitunter recht eigenwillige Politiker Stellung, nicht nur in parlamentarischen Reden, sondern auch immer wieder publizistisch. Umsetzen konnte er seine auch nicht immer ganz widerspruchfreien Ansichten nur bedingt, aber sie galten ihm stets als Richtschnur.

Als sein Hauptwerk gilt die 1847 erschienene über 600-seitige Abhandlung „Die Agrarfrage“. Ursprüngliches Hauptanliegen der Arbeit war ein Plädoyer für die freie Teilbarkeit des Grundbesitzes. Davon ausgehend legte Reichens­perger in diesem Buch jedoch seine gesamten Vorstellungen von der Bestimmung des Staates dar. So stand er einer verfassungsmäßigen Beteiligung der Bevölkerung an den Staatsgeschäften positiv gegenüber, erachtete jedoch nicht jeden als gleichermaßen geeignet, über jede politische Frage zu entscheiden. Er trat für eine Dezentralisation des Staatsverbandes ein und entwarf ein (später in der Praxis nie diskutiertes) „korporativ-repräsentatives“ Verfassungssystem. Über allem sollte der Monarch stehen. Diesen stellte Reichens­perger, überzeugt vom Gottesgnadentum, nie in Frage. Der Monarch war ihm Garant gewachsener Ordnung und stabilisierendes Element gegen Radikalismus.

In anderen Abhandlungen und Stellungnahmen setzte er sich für öffentliche Gerichtsverfahren und die gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit ein. Mit beiden Forderungen war er der Entwicklung voraus.

Politisch wirkte Peter Reichens­perger, um den es nach 1870/71 eher ruhig wurde, oft eng mit seinem Bruder August Reichensperger (1808–1895) zusammen, der ebenfalls einer der wesentlichen Führer des frühen Zentrums war und sich zudem intensiv und erfolgreich für die Vollendung des Kölner Dombaus engagierte. Erik Lommatzsch


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